Jai Khosla sah genauso aus, wie Laura ihn sich am Telefon vorgestellt hatte. Mitte 30, knapp durchschnittlich groß, braun, sportlich, das schwarze Haar kurz geschnitten, die Kleidung teuer. Er hatte eine übertrieben höfliche Art, gleichzeitig war er unbeirrbar in den für ihn wichtigen Punkten, wie sie bald feststellte.
Mit im Schlepptau brachte er seinen Associate, Krista Hofmann. Sie war Anfang 20, der Universitätsabschluss konnte nicht lange zurückliegen. Ihr Outfit stach eklatant von dem konservativen Kostüm Lauras ab. Das eng geschnittene Kleine Schwarze, die hochhackigen Schuhe und die Chanel Handtasche waren offensichtlich teuer gewesen, wirkten im Büro eines Autozulieferers jedoch deplatziert. Die Haut war sonnengebräunt, mehr Segeltörn als Solarium. Das Gesicht war aufwendig geschminkt, die Haare fielen kunstvoll unordentlich, perfekter "Frisch nach dem Sex" Look. Laura war sich sicher, dass jedes einzelne Kleidungsstück rund eines ihrer eigenen Monatsgehälter kostete. Sie sah ungemein attraktiv aus, aber war sie kompetent? Vielleicht war Krista Hofmann die Tochter von Herrn Meir oder Herrn Huxley und der Papa wollte sie gegen ihren Willen Berufsluft in seiner Firma schnuppern lassen. Konnte es sein, dass Jai sie aus privaten Gründen mitgenommen hatte? Von Investmentbankern war einiges zu erwarten, dass sie ihre Geliebten zu ihren Klienten brachten, übertraf die übelsten Klatschgeschichten. Jai unterbrach sie in ihren Gedanken:
"Ziel unserer Aufgabe ist es, zu evaluieren, welchen Preis ein Käufer des Unternehmens zahlen sollte. Am wichtigsten ist der Nettobarwert. Für den zinsen wir die zukünftigen freien Bargeldflüsse auf den heutigen Tag ab. Um das zu ermitteln, schätzen wir die zukünftigen Umsätze, berechnen die dem entgegenstehenden Produktions- und Verwaltungskosten, ziehen die Investitionen und Steuern ab und das machen wir für jedes Jahr der Vorhersageperiode. So weit, so klassisch. Fräulein Hofmann hat das wohl im letzten Semester an der Uni gelernt."
So sprach keiner über seine Geliebte. Laura musterte Krista, unter deren dunklem Teint ein deutlicher Rotanflug zu erkennen war.
"Ganz unklassisch gesprochen, ist das so wissenschaftlich wie die Verknüpfung des Kaufpreises mit der Anzahl der Haare auf den Köpfen der Vorstände. Jeder, der glaubt, den Cash Flow Ihres Unternehmens in fünf Jahren zu kennen, lügt entweder oder leidet an narzisstischer Selbstüberschätzung.
Wir werden diese Methodik trotzdem nutzen, da sie zwei Vorteile hat: Erstens sie ist wegen ihrer Präzision, Unbestechlichkeit und Wissenschaftlichkeit allgemein anerkannt, und zweitens kann ich mit der Technik jeden Unternehmenswert berechnen, den ich möchte.
Danach schauen wir uns Vergleichswerte börsennotierter Unternehmen an. Frau Hofmann wird Sie über Nacht mit einer Phalanx an Kennzahlen bombardieren."
Doch keine exotischen Übungen mit Jai, armer Mann! Spitzbübisch betrachtete sie die beiden, Krista erwiderte den Blick irritiert. Bald schweiften ihre Augen wieder ungeniert herum, musterten jedes Detail in Lauras kleinem Büro. Besonderes Interesse zeigte sie für die persönlichen Habseligkeiten von Laura. Gott sei Dank gab es derer nicht viele. Zu diesem Schluss kam anscheinend auch Krista schnell. Jetzt wandte sich ihr Blick vom Büro ab und prüfte Laura und ihr Outfit genau. Es war das erste Mal, dass Laura sich durch eine Frau geistig ausgezogen fühlte. Kristas Gesichtsausdruck ließ nichts von einem Casanova oder einer Sappho erkennen, vielmehr erinnerte er sie an einen Drogenfahnder oder Zollbeamten.
Die Mittagszeit nahte, ein Kantinenbesuch mit den beiden hätte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Laura bat die Sekretärin ihres Chefs, ihr und den Unternehmensberatern einige Sandwiches zu bringen. Die Lüge ging ihr leicht von den Lippen, wie immer. Hingegen konnte sie die ihr zugeraunte Frage "Gehört die Frau wirklich zu der Unternehmensberatung, oder hat er sie privat mitgenommen?" nur mit einem Achselzucken beantworten.
Um vier Uhr begann Khosla, regelmäßig auf seine Uhr zu schauen und verabschiedete sich 30 Minuten später mit dem Hinweis auf seinen Flieger. Er erklärte, Frau Hofmann, das Fräulein war einmalig geblieben, würde sich vor Ort für die Dauer der Transaktion einquartieren. Per Telefon würde er mit ihr Kontakt halten. Nach Khoslas Abschied wandte sich Krista Hofmann, die den ganzen Tag auffallend ruhig gewesen war, Laura Sand zu:
"Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Erklärung für meine Aufmachung. Die Sekretärin und Sie haben mich angeblickt, als ob ich ein grünes Frauchen vom Mars wäre."
Jetzt war es an Laura, zu erröten.
"Wie Herr Khosla in seiner charmanten Art fünf Mal bemerkte, komme ich fast frisch von der Uni. Ich schloss letztes Frühjahr mein Harvardstudium ab und am nächsten Tag bereitete ich bereits für Meir Huxley eine Milliardentransaktion in Texas vor. Die letzten sechs Monate arbeitete ich rund um die Uhr. 18 Stunden täglich von Montag bis Samstag und am Sonntag zum Ausgleich 20 Stunden, denn Montag war immer die Deadline für die wöchentlichen Statusberichte. Zur Erholung hatte ich gerade eine Woche Urlaub in der Karibik und sollte morgen in unserer Frankfurter Niederlassung anfangen.
Mein Mobiltelefon klingelte, ein neuer Kunde, ich möge direkt hinfahren. Die Teamassistenz verwechselte die Namen und meinte, es handle sich um einen Hersteller von Luxusartikeln der obersten Preisklasse. Prompt zog ich mich an wie für eine Oscarverleihung. Ich verspreche Ihnen, morgen komme ich in angemessen biederer Kleidung."
Krista bemühte sich kaum, ihre Verachtung zu verstecken. Laura verspürte einen Schmerz im Inneren. War sie wirklich so provinziell geworden, dass eine Berufsanfängerin auf sie herunter schaute? Hatte sie in ihrem Leben die falschen Weichen gestellt? Zudem hatte Laura den Eindruck, dass Krista ihr etwas verheimlichte, als ob sie einen tieferen Grund gehabt hätte, die provokant unpassende Kleidung zu wählen, mit der sie wie ein bunter Schmetterling in einer grauen Fabrikhalle wirkte.
Nach Büroschluss kam für Laura der schwierige Teil des Abends: das Telefonat, das sie lange herausgezögert hatte. Sie musste sich dem stellen. Laura wählte die Nummer, es meldete sich die Voicemail.
"Hallo, ich bin es. Bitte rufe mich schnell an. Wir müssen uns unbedingt treffen, um etwas persönlich zu besprechen. Ich bin heute Abend frei. Schick mir einfach eine SMS."
Sie fuhr nach Hause, nahm aber kein Abendmahl zu sich, weil sie vielleicht später ausgehen würde. Ihr Telefon, das sie immer in ihrer Nähe hatte, blieb stumm und zeigte keine SMS an. Einmal rief sie ihre Mailbox an, keine neuen Anrufe waren vermerkt.
Fernsehen wollte sie nicht, auf ein Buch konnte sie sich nicht konzentrieren. Schließlich nahm sie eine Zeitschrift zur Hand und blätterte in ihr. Kein Anruf.
Kurz vor zehn Uhr machte sie sich zwei Brote, zu groß war ihr Hunger. Um elf Uhr fluchte sie, schaltete ihr Telefon ab und ging ins Bett. Sie konnte nicht einschlafen und stand eine halbe Stunde später wieder auf. Sie stellte das Telefon an, keine Nachricht war gekommen.
Am nächsten Morgen, unmittelbar nach dem Aufwachen, wiederholte Laura das Telefonritual. Umsonst, der erwartete Anruf war ausgeblieben. Früher als sonst verließ sie die Wohnung und begab sich in ihr Büro. Beide Frauen bemühten sich, die wahrnehmbare Spannung des gestrigen Tages zu ignorieren. Krista Hofmann war in ein dezentes, anthrazitfarbenes Kostüm gekleidet, sublim ihre femininen Reize betonend. Lediglich ein exotisches Schmuckstück verlieh ihrem Auftreten eine exquisite Note. Es war ein rotgolden gefasstes Collier, in dessen Mitte sich ein fünf Zentimeter langer Stein befand. Er war zylindrisch geformt und durchgebogen, der Durchmesser betrug knapp einen Zentimeter. Das Kleinod war blau-weiß gemustert und schien nicht bemalt zu sein, lediglich poliert.
"Der ist ja toll. Was ist das für ein ungewöhnlicher Schmuck, wenn ich fragen darf?"
"Das war ein Geschenk. Er stammt aus Bali und es soll sich um einen Elefantenstein handeln. Ich bezweifle, dass das der technisch richtige Ausdruck ist, doch so wurde er mir beschrieben. Es heißt, er sei selten und kostbar. Das rote Gold ist in Bali populär, außerhalb von Indonesien habe ich diesen Farbton noch nie gesehen."
"Er ist wunderschön."
Laura konnte nicht umhin, die eigene Reflexion im Glas des Besprechungsraums zu mustern. Wären Krista und sie beide gerade ungeschminkt im Bikini einem Schwimmbad entstiegen, sie hätten Schwestern sein können. Beide waren schlank, sportlich, ohne muskulös zu wirken, von überdurchschnittlicher Größe, mit angemessenen aber nicht üppigen Formen. Attraktive junge Damen, keine Schönheiten. Während Laura ihre Weiblichkeit im beruflichen Alltag gerne kaschierte, strich Krista diese hervor. Laura hatte im Lauf ihrer beruflichen Laufbahn ihr Geschlecht als einen potenziellen Konkurrenznachteil erlebt und versuchte, diesen zu minimieren. Krista hingegen, frisch von der Uni und mit wenig Berufserfahrung, versuchte, die eigene Ausstrahlung auf das andere Geschlecht als Vorteil zu nutzen.
War das richtig? Wann hatte es einen Nachteil für sie bedeutet, eine Frau zu sein? Laura musste sich eingestehen, nie wahrnehmbar diskriminiert worden zu sein. Sie war nicht ungerecht bei Beförderungen übergangen worden und hatte die schwierigen Projekte übertragen bekommen, die Karrieresprungbretter sein konnten. Vielleicht sollte die betonte Unweiblichkeit ihres beruflichen Auftretens in Wirklichkeit ihr ungeordnetes Privatleben kompensieren. Krista schien diese Probleme nicht zu kennen. Trug Laura lediglich den Hauch eines Parfums, umgab Krista eine schwere, exotische Note, wie eine seltene Dschungelblume aus Indonesien.
Die Frauen arbeiteten schweigsam. Krista hatte Laura die Antworten der Researchabteilung weiter geleitet. Gelegentlich warf eine der anderen ein Wort zu, zumeist herrschte Stille. Schließlich fasste sich Krista ein Herz.
"Duzen wir uns doch, wenn wir zusammenarbeiten, ich heiße Krista."
"Gerne, Laura."
Die beiden schüttelten sich die Hände.
"Zu Mittag zeige ich dir die Kantine, obwohl ich dich warnen muss, das Essen ist schwer."
"Ich bekomme von unserem Hotel täglich ein Lunchpaket, das ist bei Meir Huxley üblich. Wir haben Verträge mit allen Hotels, damit wir keine Zeit vergeuden, Mittagessen zu gehen."
"Das war zu meiner Zeit anders, ich war aber auch nicht bei Meir Huxley. Ich habe mir immer ein billiges Lokal gesucht."
"Fände ich besser, ist kommunikativer. Vielleicht könnten wir heute Abend nach der Arbeit gemeinsam essen gehen, vor der Nachtschicht sozusagen."
"Ich wollte heute Abend eventuell mit Freunden weggehen. Wenn sich das zerschlagen sollte, sehr gerne."
Laura verwendete die nächsten Stunden darauf, LS aus der Außenperspektive zu analysieren. Sie kam zu den gleichen Schlussfolgerungen wie die spärliche Zahl der Analysten, welche die Aktie verfolgten. LS war ein grundsolides Unternehmen in einem wenig spannenden Markt. Am Nachmittag setzte sie sich mit Krista zusammen und teilte dieser ihre Überlegungen mit.
"Das habe ich genauso gesehen. Ich freue mich darauf, Dr. Stuck kennenzulernen. Das muss ein hervorragender Manager sein. Fast eine Nummer zu groß für LS … Der könnte auch größere Schiffe steuern. Ich könnte mir vorstellen, dass dies der Grund für das Interesse von RSS ist. Das wenige, was ich bisher über RSS weiß, deutet auf einen lahmen Kahn hin, der steuerlos auf See treibt. Ich glaube, sie suchen einen Antriebsmotor, um sich selbst wieder flott zu machen."
"Meinst du wirklich, dass der CEO freiwillig durch Dr. Stuck abgelöst werden möchte? Halte ich für unwahrscheinlich."
"Da gebe ich dir recht. Einen Hecht in seinen Vorstandskarpfenteich bringen zu wollen, das könnte ich mir vorstellen."
Krista prüfte ihren Blackberry und fragte: "Wie schaut es aus mit heute Abend?"
Laura hatte ihr dringlich ersehntes Telefonat nicht geführt, heute wollte sie es wissen. Sie musste mit ihm sprechen.
"Leider, wie erwartet treffen wir uns bei Freunden. Wir können gerne für morgen etwas ausmachen, dann zeige ich dir die heißesten Plätze in unserer Stadt. Bedauerlicherweise dauert das nur fünf Minuten, bei uns gibt es nicht viel Auswahl. Wir können zu ‚Pepe’s‘ gehen. Das ist unsere Variante des Nachtlebens. Es gibt leichte Mahlzeiten, leckere Cocktails und gelegentlich verirrt sich eine Band dorthin."
"Cool".