Johann ‚Hansi‘ Posselt hatte eine klassische Wiener Verbrecherkindheit hinter sich. Der Mutter, einer alkoholkranken Prostituierten, wurde früh das Sorgerecht entzogen, der Vater war unbekannt. Bereits im Alter von neun Jahren hatte Hansi mehrfach Bekanntschaft mit der Wiener Polizei gemacht. Seine ebenso klassische Ausbildung führte über die üblichen Stationen staatlichen Gewahrsams. Theoretische Lektionen durch die anderen Zöglinge wurden mit praktischen Übungen in Selbstbedienungsgeschäften, Warenlagern und mit Handtaschen verknüpft. Leistung macht sich bezahlt und folglich verlief seine Karriere in der mittleren Verbrecherebene weitgehend unterbrechungsfrei und erfolgreich. Seine Probleme begannen eines Morgens mit einem spitzen Aufschrei seiner Freundin, einer Friseuse aus Floridsdorf. Beim Griff in den Wäschekorb stellte sie fest, dass die von ihm am Vorabend getragene Kleidung blutbesudelt war. Empört stellte sie Hansi vor die Alternative, sein Geld in Zukunft ohne Gewalt zu verdienen oder sie zu verlieren. Wohlgemerkt, sie sagte nie, dass er sein Geld legal erwerben solle. Bisher hatte er bewaffnete Überfälle auf Tankstellen organisiert, jetzt musste er auf Gewaltfreiheit umsatteln. Da er hervorragend verdient hatte, konnte er sich ein Sabbatical zu Fortbildungszwecken leisten. Er lernte um und wurde Einbrecher mit Spezialisierung auf Geschäftslokale. Der gewohnte Erfolg wurde ihm auch in dieser Branche zuteil, und er blieb ihr nach dem Ende der Beziehung zu der Blondine treu.
Eines Tages arbeitete Hansi, sonst ein Muster gewissenhafter Planung und präziser Implementierung, unüblich schlampig. Dies begann damit, dass er über sein Opfer, einen Antiquitätenhändler, keine Nachforschungen anstellte. Vor Ort übersah er den in den Boden eingelassenen, lediglich mit einem Teppich bedeckten, Safe. Hätte er ihn gefunden und gewusst, worum es sich dabei handelte, hätte er ihn dennoch nicht mitgenommen. Nicht, weil der Tresor schwer zu knacken gewesen wäre, das hätte er geschafft. Auch nicht, weil der Inhalt wertlos war, das war nicht der Fall. Nein, er hätte davon Abstand genommen, weil er das Leben liebte. In dem Geldschrank lagen 2300 Karat ungeschliffener Diamanten kongolesischer Provenienz, garantiert Top Wesselton ws1. Sie gehörten dem ungekrönten König der Wiener Unterwelt. Durch seine Grausamkeit und Mordlust hatte er sich einen bis an die Grenzen seines nordöstlichen Heimatlandes reichenden Ruf geschaffen. Den Antiquitätenladen unterhielt er als Front, weil er sämtlichen Banken misstraute und sein Vermögen hier in naiver Weise sicher wähnte.
Als der halbseidene Potentat den Einbruch am Morgen registrierte, überfiel den hartgesottenen Mann die Panik. Mit Erleichterung registrierte er, dass der Safe unbeschädigt und der Inhalt unversehrt war. Leider kostete diese Erkenntnis das Leben eines seiner Leibwächter. Er hatte ihn mit in das Geschäft beordert, während die anderen draußen Wache hielten. Einen Bombenanschlag befürchtend, hatte er diesen den Tresor öffnen lassen. Als der Inhalt nicht explodierte, musste der Hobbyantiquar schweren Herzens seinen treuen Gefolgsmann erschießen wie einen tollwütigen Hund. Schließlich kannte dieser nun das Geheimnis seines Diamantenverstecks. Der Wiener Strizzikaiser schwor, den Einbrecher, der letztlich für Alexis Tod verantwortlich war, blutig bezahlen zu lassen.
Aus dem Geschäft tretend, befahl er seinen Sicherheitsleuten, die Leiche stillschweigend zu beseitigen. Außerdem gab er ihnen den Auftrag, zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Moral den Einbrecher zu ermorden. Dies solle so blutig und plakativ geschehen, dass er davon auf der Titelseite der populären und auch von ihm geschätzten ‚Kronen-Zeitung’ lesen würde.
Es dauerte 37 Minuten, bis Hansi von diesem Suchauftrag erfuhr. Nach weiteren vier Minuten schwang er sich unrasiert und halb bekleidet in sein Auto. Bei sich trug er sämtliche Wertgegenstände, die in einen Koffer passten. Er holte ein unauffälliges Fluchtfahrzeug samt Geldreserven aus einem angemieteten Weinkeller in Stammersdorf, einem Wiener Vorort. Vorschriftsmäßig fuhr er in einem Zug bis Essen durch. Er kannte niemanden in Essen, war nie dort gewesen und die Unterwelten der beiden Orte standen miteinander nicht in Kontakt. Genau daher war der Ort ideal: Niemand würde ihn erkennen. Europa zu verlassen, traute er sich nicht. Er bezweifelte, dass seine gefälschten Reisepässe einer Grenzkontrolle standhalten würden. Außerdem sprach er keine Fremdsprachen.
In seinem bisherigen Metier tätig werden konnte er in Essen nicht, ihm fehlten zuverlässige Hehler und Mitarbeiter. Durch seinen Akzent hätte er sich zudem sofort als Wiener verraten. Viele flüchtige Wiener Profieinbrecher, auf die eine großzügige Kopfprämie ausgesetzt war, gab es nicht.
Während seines Exils mietete er unter falschem Namen ein Bett in einer Unterkunft für illegale Ausländer, um der Meldepflicht zu entgehen. Zur Vermeidung der Langeweile erwarb er einen Computer. Über das Deep Web, den Mr. Hyde des Internets, knüpfte er Kontakte in entlegene Winkel der Erde. Oft war es der sportliche Ehrgeiz, der seine Chatpartner motivierte, seine Probleme zu lösen. Wenn dies nicht ausreichte, verschaffte ihm eine Bargeldüberweisung Unterstützung in Kenia, Bulgarien, Rumänien und Indien. Der Besitzer einer kleinen Wechselstube offerierte entspannte Personalausweiskontrollen gegen erhöhte Gebührensätze.
Bald war er in der Lage, die Computersysteme der damals leicht zu überlistenden ersten Internet-Handelsunternehmen zu manipulieren. Seine Gehilfen drangen mühelos in deren Datenbanken ein, und speicherten Phantomsendungen ab. Die Zahlungssysteme interpretierten die Transaktionen als Retouren und erstatteten den vermeintlichen Kunden den Kaufpreis zurück. Hansi war bescheiden, niemals stellte er mehr als Euro 200 pro Monat und gefälschtem Kunden in Rechnung. Per Internet suchte er unvorsichtige oder geldgierige Zeitgenossen, die bereit waren, ihr Bankkonto für den Empfang dieser Überweisungen zur Verfügung zu stellen. Die Konteninhaber hoben das Geld ab und sendeten es abzüglich einer 6-Prozent-Provision als Paket an eine Packstation. Dort holte er die Sendungen mit einer gefälschten Berechtigungskarte ab.
Mit Begeisterung vernahm er nach einigen Jahren, dass sein Wiener Todfeind gefoltert und ermordet worden war. Der verstümmelte Leichnam wurde ohne Kopf und Penis mit vielfachen Verbrennungen und Verätzungen auf einem Fleischerhaken hängend unter einer Brücke gefunden. Aus dem Untergrund auftauchend, kaufte Hansi eine Kette von herunter gewirtschafteten Kneipen mit Glücksspielautomaten in einer ostwestfälischen Kleinstadt. Als Vorzeigeunternehmer optimierte er zügig Speisekarte und Service und nutzte die Lokale zudem, um seine illegalen Internetgewinne zu legalisieren. Von den versteuerten Erträgen erwarb er eine hübsche Villa für seine nette Frau und ihre zwei wohlerzogenen Kinder. Im lokalen Fußballverein wurde er Vorstandsmitglied, und nach erfolgreichen Spielen lud er die ganze Mannschaft in eines seiner Lokale ein. Um seinen Bauch legte sich ein schmaler, stetig zunehmender Speckgürtel.
Eines Tages sprach ihn in einem seiner Lokale ein unauffälliger, rund zehn Jahre älterer Mann an. Er stellte sich als Peter Markowski vor. Dieser erzählte, man kenne sich aus seiner früheren Tätigkeit beim BKA. Das hieße, vermutlich kenne Hansi ihn nicht, er Hansi aber sehr wohl. Beim BKA hätte er ihn voller Interesse beobachtet. Aus Budgetgründen hätte er keine Ermittlungen gegen ihn einleiten können.
Jetzt wäre er nicht mehr weisungsgebunden, sondern frei, eine Anzeige bei der lokalen Polizeistation, mit Kopie an die Lokalzeitung, zu erstatten. Der Polizei bliebe nichts anderes übrig, als unabhängig von allen budgetären Restriktionen Hansis Fall zu untersuchen.
Vielleicht könnten Hansi und er sich ohne offizielle Untersuchung einigen? Sie konnten, und fortan hatte Peter Markowski einen Freien mehr, der ihm bei schwierigen Einbruchsfragen, digitaler oder physischer Natur, half. Hansis Interesse war die bequeme Weiterführung seiner Existenz, nicht die magere Bezahlung. Markowski war sich der mangelnden positiven Motivation seines Freien bewusst. Folglich versuchte er, Hansis Inanspruchnahme auf ein Mindestmaß zu beschränken.
An einem Nachmittag stand Hansi Posselt mit Miroslav Brončic, von allen Bronco genannt, im Haus von John Swansea. Bronco war ein mürrischer Prügel von einem Mann. Er war Mitte 50, sehr kräftig gebaut und sprach selten. Markowski kannte Bronco aus Zeiten der Jugoslawienkriege. Seine zahlreichen Feinde hätten ihn unter seinem früheren Namen als serbischen Kriegsverbrecher bezeichnet. Bronco hatte dem Bundesnachrichtendienst beizeiten nützliche Informationen zukommen lassen. Im Gegenzug hatte er einen Persilschein erhalten, und Markowski hatte Bronco im Namen des Amtshilfe leistenden Bundeskriminalamtes eine neue Identität verpasst. Nach dem Krieg war er mit ihm in Kontakt geblieben. Broncos Qualifikationen waren im Zivilleben beschränkt verwendbar, und er war konstant in Geldnot. Gerne unterstützte er Markowski folglich in dessen neuer Funktion. Bronco vermittelte den Eindruck, ein "Mann fürs Grobe" zu sein. Diese Ausstrahlung nutzte er so geschickt, dass er kaum gezwungen war, seine physischen Qualitäten unter Beweis zu stellen.
In das Haus von John Swansea einzudringen, war ein leichtes Unterfangen gewesen. Hansi hatte das Objekt einige Tage beobachtet. Der Tagesablauf war strikt vorhersehbar. Swansea wurde morgens gegen sieben Uhr vom Chauffeur abgeholt und kehrte spät abends zurück. In der Villa wohnte sonst niemand, vor allem kein Hund. Pünktlich um neun Uhr morgens erschien wochentags eine Putzkraft, die das Haus gegen vierzehn Uhr dreißig wieder verließ. Zwischen fünfzehn und zwanzig Uhr stand das Gebäude leer.
Die Alarmanlage war Standard, und die Arbeit wurde lediglich dadurch kompliziert, dass sie diese nicht zerstören durften. Keine Spuren des Einbruchs sollten erkennbar sein. Hansi öffnete die Haustüre mit einem Skelettschlüssel und lief zu der gut sichtbaren Hauptkonsole der Alarmanlage. Er besprühte diese mit dem flüssigen Sauerstoff, den er in einem eigens für den Zweck mitgebrachten fahrbaren Gaszylinder aufbewahrte. Dann stülpte er eine hölzerne Verkleidung gefüllt mit einer Packung Trockeneis über das Gehäuse. Durch die schnelle Kühlung der Bedieneinheit innerhalb von dreißig Sekunden nach Betreten des Hauses hatte diese kein Signal an die Zentrale abgesetzt. Erst nach dem Auftauen würde sie einen Stromausfall melden. Um eine plausible Erklärung dafür zu haben, hatte Hansi den Kontakt zur Notbatterie mit einer schwachen Säure benetzt. Der letzte Schritt war der Gang zum Sicherungskasten, um einen Stromausfall vorzutäuschen. Innerhalb von wenigen Minuten waren diese Aufgaben erledigt, und sie konnten sich dem Ziel ihres Besuches widmen. Hansi hatte die Aufgabe, die Räumlichkeiten zu durchsuchen, Bronco stand im Eingangsraum Schmiere.
Im Erdgeschoss herrschten makellose Ordnung und Reinlichkeit. Alles war sorgfältig arrangiert, als ob in fünf Minuten der Fotograf einer Zeitschrift für Inneneinrichtung vorbeikäme. Das Wohnzimmer hatte saalartigen Charakter, das Esszimmer sah aus wie ein zeitgenössischer Vorstandssitzungsraum. Keiner der Räume zeigte Gebrauchsspuren. Die begehbare Garderobe im Obergeschoss hätte für Imelda Marcos’ Schuhe gereicht. John Swansea füllte sie mit seiner Kleidung lediglich zu einem geringen Teil aus. Mit Ausnahme von Büro und Schlafzimmer waren die anderen Räume des Obergeschosses ungenutzt und mit alten Möbeln lieblos angefüllt. Im Büro lagen einige Geschäftsunterlagen, auf den ersten Blick schien keine LS Technologies oder Swanseas Vergangenheit zu betreffen. Neben dem Zugang zur verstaubten Einliegerwohnung lag der Aufgang zum Dachboden. Die wenigen darin befindlichen Gegenstände waren durchwegs Baumaterialien, die anscheinend bei verschiedenen Renovierungen verwendet worden waren. Im Keller fand sich ein Wellnessbereich mit Hallenbad und Sauna. Ihre Suche nach Dokumenten blieb erfolglos, und Hansi grübelte eine Minute lang missmutig.
Mit einem Laut des Unmuts durchbrach er die vorherrschende Stille, war ihm doch das Offensichtliche nicht aufgefallen: Es gab in dem Haus keinen Safe! Undenkbar in einer Villa dieser Größenordnung. Er wurde im Schlafzimmer unter einem Nachtkästchen fündig. Im Gegensatz zur üblichen Montage befand sich der Tresor nicht in der Wand, sondern war im Boden versenkt. Bronco hatte sich seit seiner Zeit auf dem Balkan fortgebildet und war mittlerweile ein passabler Safeknacker geworden. Es war ein altes Modell der unteren Preisklasse und stellte der gewaltfreien Öffnung keinen ernsthaften Widerstand entgegen. Hansi inspizierte den Inhalt, fand ihn jedoch denkbar uninteressant: einige Manschettenknöpfe aus Gold und Platin sowie etliche Uhren. Hansi hatte den Eindruck, der Safe wäre bewusst mit diesen Gegenständen angefüllt worden, um einen Einbrecher zufriedenzustellen und von weiteren Nachforschungen abzuhalten.
Aus seiner Erfahrung heraus fanden sich meist Dokumente in den Geldschränken, seien es Wertpapiere, Urkunden oder Zeugnisse. Sie waren selten dem Risiko eines Diebstahls ausgesetzt, wurden dort vielmehr aus Gründen des Brandschutzes verwahrt. Hansi suchte weiter, ob nicht noch ein zweiter Tresor in dem Haus verborgen wäre.
Auf dem Dachboden, hinter etlichen Kisten mit Fliesen versteckt, erblickte er ihn. Er war deutlich neueren Datums. Hansi vermutete, dass John Swansea ihn ohne Nutzung eines Professionisten selbst installiert hatte, wohl der höheren Diskretion wegen. Für Hansi und Bronco war dies ein Segen, denn die im Einzelhandel zu erwerbenden Modelle konnten einem Experten kaum standhalten.
Sie fanden keine Gegenstände von materiellem Wert, doch Hansi war über die darin befindlichen Unterlagen umso erfreuter. Eifrig fotografierte und notierte er über eine Stunde lang. Zu Beginn hatte er etliche Fotos gemacht, anhand derer er den Anfangszustand wieder herstellte.
Die physische Untersuchung war beendet und Hansi wandte sich dem elektronischen Teil zu. Er entfernte die Festplatte von Swanseas privatem Computer und kopierte sie physisch, Bit für Bit. Zu Hause angekommen könnte er in aller Ruhe das Passwort knacken und die Dateien lesen.
Während die Festplatte dupliziert wurde, fotografierte er alle persönlichen Dokumente mit seiner Digitalkamera. Er öffnete die Geräteabdeckung des WLAN-Telefonrouters und löste die Steckverbindung eines Mikrochips. Der mitgebrachte Ersatzchip sah von außen genauso aus, verfügte jedoch über eine Vielzahl weiterer Funktionen. Wenn Swansea telefonierte, konnte Hansi ihm dabei zuhören und sämtliche über das Internet ausgetauschten Daten verfolgen und speichern. Außerdem konnte er über den Router einen Trojaner an Swanseas Computer senden und dessen Kontrolle übernehmen.
Durch Zeichen gab Hansi Bronco zu verstehen, dass ihre Mission erfolgreich beendet sei, und sie gehen könnten. Vor dem Haus angekommen, stiegen sie in ihren Lieferwagen und fuhren störungsfrei los.