Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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14.  Sonne und Mond




In alten Zeiten, da lebten in einem Haus fünf Leute zusammen, Vater, Mutter, Sohn und Tochter und noch ein ganz kleines Kind. Eines Tages ging die Mutter in das Dorf auf der anderen Seite der Berge, um für jemanden zu weben. Obwohl der Tag zu Ende ging, war die Mutter noch nicht zurückgekommen, und da verriegelten die Kinder sind die Tür und warteten darauf, daß die Mutter zurückkomme.

Die Mutter mußte bis zu dem Dorf, in das sie wegen ihrer Webarbeit ging, zwölf Pässe überqueren. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, bekam sie als Entlohnung Reiskuchen, und die trug sie auf dem Kopf und kehrte zurück. Doch als sie einen Paß heraufkam, saß ein Tiger zusammengekauert da und sagte: »Alte, Alte, wenn du mir einen Reiskuchen gibst, dann werde ich dich nicht fressen«, und sie nahm einen Reiskuchen heraus und gab ihn her.

Als sie zum nächsten Paß heraufkam, verlangte wieder ein Tiger: »Alte, Alte, wenn du mir einen Reiskuchen gibst, dann werde ich dich nicht fressen«, und sie nahm wieder einen Reiskuchen heraus und gab ihn her.

Als sie den nächsten Paß heraufkam — war da doch wieder ein Tiger, der die gleichen Worte wiederholte.

Und diesmal blieb ihr nur ein einziger Reiskuchen übrig. Als sie wieder einen Paß heraufkam, kam wieder ein Tiger heraus, ihm gab sie das letzte Stück.

Am nächsten Paß sagte ein Tiger: »Alte, wenn du mir einen Arm gibst, werde ich dich nicht fressen«, und sie gab ihm einen Arm. Als sie den nächsten Paß heraufkam — kam ein Tiger heraus, und sie mußte ihm den anderen Arm überlassen. Noch einen Paß kam sie herauf — ein Tiger kam, und sie gab ihm ein Bein. Und als sie den nächsten Paß überqueren wollte, kam wieder ein Tiger, und sie mußte sogar das letzte übriggebliebene Bein weggeben.

Und der Tiger am nächsten Paß fraß die Mutter ganz auf, zog sich ihre Kleider an und ging zu ihrem Haus. »Kinder, Kinder! Macht die Tür auf!« rief er, die Kinder aber sagten: »Das ist nicht die Stimme unserer Mutter« — und da sagte der Tiger: »Ja, ich bin über zu viele Pässe gelaufen, da habe ich mich erkältet, deshalb ist meine Stimme so.« Die Kinder verlangten nun: »Dann streck mal deine Hand aus!« Und der Tiger streckte seine Pfote aus. Als die Kinder sahen, daß da Haare drauf waren, meinten sie, das sei nicht die Hand ihrer Mutter. Und da erklärte der Tiger, das sei durch die Weberei so geworden, und verlangte, sie sollten die Tür endlich aufmachen. Und die Kinder machten die Tür auf.

Der Tiger kam ins Zimmer, umarmte das kleinste Kind, und mit krach, krach biß er ihm in die Hand und fing an zu kauen. Die anderen Kinder fragten, als sie das hörten: »Mutter, was ißt du denn da?« — »Im Nachbarhaus habe ich geröstete Bohnen bekommen, und die esse ich« — doch da erkannten die Kinder, daß das nicht ihre Mutter war, und sie fürchteten sich. Das Mädchen ließ sich was einfallen: »Mama, ich muß mal!« — »Dann mach in den Topf!« — »Aber wenn Vater kommt und schimpft?« — »Dann geh auf die Veranda und mach da!« — »Aber wenn Vater kommt und da reintritt?« — »Schon gut, ich bind’ dir dies Seil um, dann gehst du raus in den Garten und machst dort.«

Und so banden sich Bruder und Schwester das Seil am Körper fest, gaben das andere Ende dem Tiger, gingen hinaus in den Garten, taten so als ob — und machten sich in Wirklichkeit davon. Das Seil banden sie an einem Mörser fest, liefen weg und kletterten auf eine Pappel neben dem Brunnen. Der Tiger wartete, dann versuchte er, am Seil zu ziehen, aber es hing fest. Komisch, dachte er, und ging hinaus. Er sah nicht, wohin die Kinder gegangen waren, nur, daß das Seil am Mörser festgemacht war. Der Tiger lief hierhin und dorthin und suchte die Kinder, so kam er auch zum Brunnen. Als er in den Brunnen sah — waren die Kinder da drin. Als er das sah, wollte er in den Brunnen hinuntersteigen. Die Kinder sahen das mit an und mußten laut lachen. Da blickte der Tiger auf zur Baumspitze, und da oben waren die Kinder.

Der Tiger wollte auch auf den Baum klettern und gab sich alle Mühe, aber er schaffte es nicht. »He, ihr Kinder! Wie seid ihr denn da hinaufgekommen?« — »Im Nachbarhaus haben wir Sesamöl geholt und auf den Baum geschmiert, dann sind wir hochgeklettert«, sagten die Kinder, und kaum hatten sie geantwortet, schon lief der Tiger zum Nachbarhaus, holte Sesamöl, schmierte es auf den Baum und versuchte hinaufzugelangen, aber es war zu glitschig, und er konnte erst recht nicht hinauf. Und so fragte er die Kinder noch einmal: »Wie seid ihr da raufgekommen?« — »Ins Nachbarhaus sind wir gegangen, haben ein Beil geholt, Kerben gemacht und sind so heraufgeklettert.« Da holte der Tiger ein Beil, machte Kerben und kam so fast ganz den Baum hinauf.

Die Kinder bekamen Angst und sahen zum Himmel auf. »Gott, Gott, wenn du uns helfen willst, dann laß uns ein gutes Seil herunter. Wenn du uns aber sterben lassen willst, dann laß ein schlechtes Seil herunter!« sagten sie, und da kam ein gutes Seil herunter. Daran kletterten sie zum Himmel hinauf. Auch der Tiger sprach: »Gott, Gott, wenn du mir helfen willst, dann laß mir ein gutes Seil herunter. Wenn du mich aber sterben lassen willst, dann laß mir ein schlechtes Seil herunter«, und es kam etwas herunter, was wie ein gutes Seil aussah, und er freute sich und kletterte daran hinauf. Doch weil dieses Seil ein schlechtes, schon gebrauchtes Seil war, riß es, als er auf halbem Wege war, und er fiel herunter auf ein Maisfeld und starb. Und weil die Maisstengel mit Blut bespritzt wurden, färbten sie sich rot.

Als die beiden Kinder in den Himmel kamen, wurde zuerst einmal der Junge die Sonne und das Mädchen der Mond. Aber das Mädchen fürchtete sich, weil es immer nachts draußen herumziehen mußte, und so tauschten sie miteinander, und das Mädchen wurde die Sonne und der Junge der Mond.