Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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16.  Die alte Frau aus dem Jenseits




In alter Zeit lebte in einem Dorf ein junger Mann, der zwar zu nichts besondere Geschicklichkeit, aber ein gutes Herz hatte.

Am Tag der Wintersonnenwende hatte er seine Suppe aus roten Bohnen gekocht und gegessen und wollte nun draußen das Hoftor verriegeln. Er guckte noch einmal vor das Tor — und da sah er, obwohl es schon dunkel geworden war, eine weißhaarige Frau im kalten Nordwind an der Mauer hocken. Er dachte sich: >Was für eine alte Frau sitzt denn da in der kalten Winternacht und friert?< Er bekam Mitleid und ging zu ihr hin. »Was für eine Großmutter seid Ihr denn, daß Ihr hier in einer so kalten Winternacht allein sitzt? Wie wäre es, wenn Ihr diese Nacht in meinem Haus verbringt, sofern Ihr sonst nicht wißt wohin?« sprach er freundlich zu ihr, doch — was war das? — die alte Frau sah den jungen Mann mit furchterregendem Blick an von oben bis unten, mürrisch antwortete sie: »Du, junger Kerl, soll ich diese Nacht in deinem Haus verbringen? Nein, so was geht nicht! Kümmere dich nicht um mich, mach schnell, daß du wieder hineinkommst!«

Als der junge Mann dann die alte Frau noch einmal betrachtete, wie sie da draußen im kalten Nordwind, der die Haut faltig und rissig machte, allein saß, konnte er einfach nicht sie sich selbst überlassen. Er ging ins Haus, holte eine Schüssel mit warmer Bohnensuppe und bot sie der alten Frau an. Da wurde ihr Gesicht ein wenig heller, und sie lächelte ihn an. »Wirklich, du bist ein freundlicher junger Herr, daß du mir, die ich hier hocke, was zu essen bringst. Ja, wenn du wüßtest, wer ich bin, du wärst sicherlich nicht so freundlich zu mir.« — »Wie kann ich ruhig bleiben, wenn draußen eine alte Frau sitzt und friert, ist es da nicht ganz gleich, wer das ist? Ich habe auch eine Mutter, die schon alt ist.« — »Hm, das weiß ich ganz gut. Eigentlich bin ich gekommen, um deine Mutter in das Jenseits abzuberufen. Aber irgendwie scheint etwas falsch gelaufen zu sein, und die, die ich ins Jenseits abberufen soll, ist nicht deine Mutter. Jetzt überlege ich gerade, wo ich denn als nächstes hingehen soll.« — »O nein! Ihr also seid es, die die Menschen aussucht, die ins Jenseits abberufen werden?« — »Ja, ich bin die alte Frau aus dem Jenseits, die für den Tod der Menschen zuständig ist. Sieh mich genau an! Wenn ich mich zu Füßen eines Kranken hinsetze, dann wird er wieder genesen. Setze ich mich aber neben seinen Kopf, dann muß er ins Jenseits gehen.« — »Ja? Wenn das so ist, dann seid Ihr ...« — »Du brauchst nicht zu erschrecken. Ohne Grund schicke ich keinen von den Lebenden ins Jenseits. Aber was ich dir jetzt gesagt habe, das erzähle niemandem weiter! Wenn du das irgend jemandem erzählst, dann wird dir gleich etwas Schlimmes widerfahren. Hast du verstanden, junger Mann?« Der Mann erschrak aufs neue, er bekam eine Gänsehaut, und völlig sprachlos, wie versteinert, stand er da. Die alte Frau aus dem Jenseits sagte noch »Leb wohl!« zu ihm, und schon war sie in der Dunkelheit verschwunden.

Der junge Mann wurde blau vor Angst; ob er das Hoftor gut zugemacht hatte, war ihm völlig gleichgültig, er rannte ins Haus, zog sich eine Decke bis über den Kopf, und unter Zittern und Zagen verging die Nacht. Als es Morgen wurde, dachte er an die vergangene Nacht wie an einen bösen Traum. Mit anderen konnte er nicht über die Sache reden, weil ja dann ihm selbst Schlimmes widerfahren würde, und so quälte er sich allein damit herum. Aber als ein paar Tage vergangen waren, dachte er schon gar nicht mehr an all das.

Weitere Tage waren vergangen, da hörte er, daß sein Großvater schwer krank sei und wohl bald sterben werde. Er meinte, es wäre besser, noch einen letzten Besuch zu machen, und ging zum Haus des Großvaters. Die ganze Verwandtschaft war versammelt, betrübt saßen sie um den Kranken herum — und mitten unter ihnen sah der junge Mann eine allen unbekannte alte Frau. Sie war eingenickt, hockte zu Füßen des Kranken. »Wer ist denn die alte Frau, die da neben dem Wandschirm eingeschlafen ist?« fragte er die Leute, die neben der Alten saßen. Alle sahen sich nur ratlos um. »Wo ist denn eine alte Frau?« — keiner konnte eine alte Frau sehen! Die Leute, die versammelt waren, sahen alle ärgerlich den jungen Mann an. »Da ist doch gar nichts! Was redest du für dummes Zeug?« sagten sie.

Also war die alte Frau, die das Schicksal zumaß, allein für den jungen Mann sichtbar! Weil alle anderen nun durcheinanderschrien: »Da ist doch gar niemand!«, wachte die alte Frau, die bis jetzt geschlafen hatte, auf. Als sie den jungen Mann erblickte, schien sie ihm freundlich zuzulächeln. »Ja! War das nicht die alte Frau aus dem Jenseits, die ich in der Wintersonnwendnacht getroffen habe?« Der junge Mann erschrak und stand schnell auf, doch als er genau überlegte, da fielen ihm ihre Worte wieder ein: »Wenn ich mich zu Füßen eines Kranken hinsetze, dann wird er nicht sterben.« Jetzt wurde ihm leichter ums Herz. »Daran habe ich nicht gedacht!« murmelte er. 

»Großvater wird nicht sterben!« — als die ganze Familie das hörte, meinten sie, der Kerl muß verrückt geworden sein. Sie konnten nicht anders als über ihn befremdet sein. Zuerst redete er von einer alten Frau, die gar nicht zu sehen war, und jetzt sagte er über jemanden, bei dem klar zu sehen war, daß er sterben muß, daß er nicht sterben wird!

Aber was der junge Mann vorhergesagt hatte, das traf ein. Und wie es erst einmal bekannt wurde, kam es schnell dazu, daß man hier und dort den jungen Mann wie einen Wahrsager bat, doch zu sehen, ob ein Kranker sterben würde oder nicht. Wirklich, vor seinem Haus entstand so etwas wie ein Jahrmarkt. Ja, hundertmal geschossen, hundertmal ins Schwarze getroffen — alle seine Voraussagen stimmten.

Bis eines Tages im reichsten Haus weit und breit die geliebte einzige Tochter im Sterben lag und man dringend von ihm verlangte, sie anzusehen. Er ging hin — und die alte Frau aus dem Jenseits saß am Kopf des Mädchens. Er sagte, die Sache sei völlig hoffnungslos, aber alle im Haus hängten sich an seine Kleider und flehten ihn an, doch zu helfen. Man versprach ihm, wenn er die Tochter nur rette, ihm das Mädchen selbst und den ganzen Besitz dazuzugeben. Da geriet der junge Mann ganz durcheinander. Er meinte keine andere Wahl zu haben, und die Habsucht ergriff ihn.

Er ging noch einmal ins Krankenzimmer, dort schlief die alte Frau wie vorher. Das sah er, und schon fiel ihm etwas ein. Er ließ ein paar starke Männer kommen, befahl ihnen, die vier Zipfel der Decke, auf der die Kranke lag, anzupacken — und im Nu war das ganze Bett herumgedreht.

Vom Luftzug, der dabei entstand, wachte die alte Frau aus dem Jenseits auf. Sie hatte geglaubt, am Kopf der Kranken zu sitzen, und nun fand sie sich plötzlich umgekehrt zu Füßen der Kranken sitzen! Sie merkte, daß der junge Mann sie überlistet hatte, aber um es ihm heimzuzahlen, machte sie, daß er von da an nicht mehr sehen konnte — und so wußte der junge Mann hinfort auch nicht mehr, wo die alte Frau aus dem Jenseits sich jeweils hingesetzt hat — an das Kopf- oder das Fußende.