Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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24. Die Reisquelle




Am Abhang des Nangnim-Berges gibt es einen Tempel, der heißt Tempel zum Vollkommenen Drachen. In der Nachbarschaft dieses Tempels ist die Landschaft wirklich herrlich, Berge sind steil, Wasser fließt klar, und im Tempelbezirk gibt es hier und da und dort viele wundersam hoch aufragende Felsen. Östlich des Tempels gibt es ein kleines Loch, aus dem klares Wasser sprudelt. Früher aber soll dort statt Wasser jadegleicher Reis hervorgekommen sein. So konnte der Abt dieses Tempels ohne Sorgen, ohne daß ihm etwas fehlte, leben — er brauchte nur den Reis aus dem Loch zu kochen.

Eines Tages besuchte ein fremder Mönch diesen Tempel. Er ging zum Abt und bat, eine Nacht dort verbringen zu dürfen. Ganz selbstverständlich stimmte der Abt zu und bot dem Gast eine Mahlzeit an.

Als es Abend wurde, entzündeten die beiden Mönche eine Lampe, saßen beieinander und erzählten sich Geschichten. Schließlich sprachen sie auch darüber, welche Vorteile ihr eigener Tempel hätte. Stolz erzählte der fremde Mönch viel darüber, was für Buddhas, welche Schätze es in seinem Tempel gebe. Ruhig hörte der Abt des Tempels zum Vollkommenen Drachen zu, aber er wollte nicht zurückstehen und erzählte auch von seinem Tempel. »Bei meinem Tempel gibt es eine Quelle, aus der Reis kommt, die ist noch niemals versiegt. Jeden Tag kommt der Reis so wie sonst Quellwasser heraus, ich brauche nicht betteln zu gehen und kann doch essen und ohne Sorgen leben.«

Als er das hörte, sagte der fremde Mönch: »Das ist doch gelogen. Es gibt nur Quellen, aus denen Wasser kommt. Was erzählt Ihr denn da von einer Quelle, aus der Reis kommen soll?« — er wollte es einfach nicht glauben. »Wenn ich sage, die gibt es, dann gibt es die! Jeden Tag kommt jadegleicher Reis da hervor, so viel, daß ich genug essen kann.« — »Ach was, das höre ich zum ersten Mal, daß es eine Quelle gibt, aus der Reis herauskommt. Zeigt mir doch, wo diese Quelle ist!« — »Ja, das macht keine Schwierigkeiten.« — »Ich bin so neugierig, könnt Ihr mir die Quelle jetzt gleich zeigen?« — »Natürlich, laß uns gehen!«

Der Abt des Tempels zum Vollkommenen Drachen zündete eine Fackel an und führte den fremden Mönch vor den Tempel. Dort zeigte er ihm das Loch, aus dem der Reis hervorkam. Und wirklich — aus einem Loch zwischen den Felsen kam jadegleicher Reis heraus. »Ja, wirklich! Da kommt Reis heraus!« — der fremde Mönch dachte, das sei ein Wunder. »Nun, laß uns wieder hineingehen!« Der Abt führte den fremden Mönch wieder in den Tempel, sie traten ins Zimmer. »Das ist wirklich die kostbarste Quelle der ganzen Welt, ich habe wirklich nicht gewußt, daß es im Tempel zum Vollkommenen Drachen einen solchen Schatz gibt!« Der fremde Mönch fand kein Ende mit seinem Lobpreis. Es wurde spät, die beiden legten sich auf ihr Kissen und schliefen den Rest der Nacht.

Am nächsten Morgen dachte sich der fremde Mönch etwas aus. »Kommt dort nur Reis für Euch allein heraus?« fragte er. »Ja, wieso?« — »Ja ...«, dann schwieg der fremde Mönch einen Augenblick. »Eigentlich wollte ich etwas fragen.« — »Was denn?« — »Nichts Besonderes. Ich bin gestern in diesen Tempel gekommen, alles gefällt mir hier so gut, und Ihr, der Abt, habt auch ein freundliches Herz, aber Ihr lebt allein und einsam hier. Kurz — wie wäre das, wenn ich hier bei Euch bliebe?« — »Ja, das wäre nicht schlecht, um ehrlich zu sein, war es ohne einen Freund hier doch recht eintönig. Laß uns also zusammenbleiben. Aber eine Sorge habe ich — aus dem Loch in dem Felsen kommt nur Reis für mich allein heraus ...« — so leichthin erklärte sich der gute Abt einverstanden. »Darüber macht Euch keine Gedanken. Ich meine, es kommt nur deshalb so wenig Reis, weil das Loch so klein ist. Wir werden einfach das Loch größer machen!« — »Denkst du, das wird gutgehen?« — »Wenn das Loch erst größer ist, wieso sollte dann nicht auch mehr Reis herauskommen? Wir wollen gleich an die Arbeit gehen!«

Der Abt schwieg, aber er folgte dem fremden Mönch zur Quelle, aus der der Reis herauskam. Der fremde Mönch schlug mit einer Hacke auf das Loch, bohrte darin herum — gleich versiegte der Reis, und aus dem Loch kam statt dessen klares Wasser heraus. »Was ist denn das? Da kommt ja Wasser!« Der fremde Mönch war ganz erstaunt, starrte auf das Loch, bohrte weiter darin herum.

Solange er auch dort stand, soviel er auch guckte — kein Reis kam mehr, nur klares Wasser. Die beiden Mönche standen da und sahen sich nur hilflos an, dann gingen sie in den Tempel zurück. An diesem Tag schauten sie noch einmal nach, am nächsten Tag schauten sie nach, aber es kam nie mehr Reis aus dem Loch. Da kam ihnen die Reue — aber es war zu spät.