Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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37.  Der Tod der Elster




In alten Tagen lebte weit, weit auf dem Lande ein vornehmer Mann mit Namen Kim Ch’amp’an. Dieser Kim Ch’amp’an hatte einen Sohn Minch’ól, den ließ er immer bei sich im Studierzimmer sitzen und chinesische Literatur studieren. Minch’ól war sehr klug, ohne daß Erwachsene ihm die chinesischen Zeichen beigebracht hätten, lernte er sie leicht.

Mit liebevollen Gedanken über seinen Sohn rief Kim Ch’amp ’an eines Tages Minch’ól zu sich und gebot ihm, sich zu setzen. »Du, Minch’ól! Du bist jetzt schon fünfzehn Jahre alt geworden, hast viele Schriftzeichen gelernt — mußt du jetzt nicht in die Hauptstadt gehen und dich dort der Staatsprüfung unterziehen?«

Minch’ól saß still und hörte zu, dann entschied er sich. »Ja, ich gehe in die Hauptstadt und werde sicher bestehen, dann komme ich zurück. Macht Euch nur keine Sorgen!« sagte er. Und schon ein paar Tage später verabschiedete er sich von Vater und Mutter und machte sich auf den Weg in die Hauptstadt, um dort die Staatsprüfung abzulegen. Er konnte nicht so wie heute einen Zug oder ein Auto besteigen, so was gab es damals noch nicht. Ob es tausend Meilen oder zehntausend waren — es blieb nichts anderes übrig, als sie zu Fuß zu gehen. Fünf Tage waren schon vergangen, seit Minch’ól das Elternhaus verlassen hatte. Er ging einen steilen Bergpfad entlang, als oben, von einem abgestorbenen Baum, plötzlich das Weinen einer Elster ertönte. Und das Weinen dieser Elster, das klang so traurig, als ob etwas ganz Schlimmes geschehe: kkaak, kkaak! Minch’ól meinte, das sei seltsam, und sah genau in die Baumkrone hinauf — die Elster war von einer riesigen Schlange umschlungen. Die Schlange wollte die Elster verschlingen, sie züngelte mit ihrer Zunge — und die Elster schrie so, als ob sie um Hilfe rufe. Minch’ól erschrak, doch dann zog er seinen Bogen heraus und schoß einen Pfeil auf die Schlange. Die Schlange blutete, sie fiel auf den Boden herunter. Da war die Elster gerettet, sie flatterte mit den Flügeln, machte kkaak, als ob sie sich bedanken wollte, blickte sich auch nach Minch’ól um und flog irgendwohin.

Minch’ól hatte der Elster geholfen, er steckte seinen Bogen wieder ein und marschierte weiter. Er war noch nicht lange unterwegs, als es dunkel wurde, nach allen vier Himmelsrichtungen dunkel, nichts war zu sehen. Er wollte zum Schlafen irgendwohin gehen, aber gar nichts, was man ein Haus hätte nennen können, war zu sehen. Er wollte vorwärts gehen, aber der Wald wurde immer dichter, er war ganz hilflos und wußte nicht, was er denn nun machen sollte.

>Aber ich werde nicht sterben! Wenn ich nur weitergehe, gibt es vielleicht doch ein Haus!<, so dachte er. Er hatte fast keine Kraft mehr, aber er raffte sich auf und ging immer weiter. Eine ganze Zeit war er gelaufen, und als er sich wieder umsah, war zur Rechten auf einer Bergesspitze blinkend ein Licht zu sehen. Minch’ól war glücklich, den steilen Berg kletterte er hinauf, Schweiß rann an ihm herunter, ja, und oben angekommen, fand er ein großes Kloster.

So sehr er auch rief, es blieb ganz still, alles schien zu schlafen, nur in einem Eckzimmer brannte noch ein Feuer. »Hallo! Ich bin zufällig hier vorbeigekommen, plötzlich ist es dunkel geworden und ich wußte nicht wohin, deshalb bin ich hier. Bitte, laßt mich hier schlafen, nur diese eine Nacht!« — das sagte er und wartete vor dem Zimmer, wo das Feuer brannte, bis jemand herauskäme. Da öffnete sich die Tür langsam, und ein schönes Mädchen kam heraus. »Ja, schlaft, und dann geht weiter«, sagte sie, öffnete ihm die Tür zu einem großen Zimmer und ging zurück. Minch’ól überlegte hin und her — das war doch eine eigenartige Geschichte!

>Warum ist denn in einem so großen Tempel ganz allein ein junges Mädchen? Wirklich eigenartig ist das, da kann man ja Angst bekommen!<, so dachte er und schlief lange nicht ein. Ihm wurde immer ängstlicher zumute, als die Tür aufging und etwas hereingeschlüpft kam. Es war so, als ob jemand ihm kaltes Wasser über den Rücken gegossen hätte; er bekam eine Gänsehaut, seine Augen wurden immer größer, er konnte einfach nicht schlafen.

Niemals hatte er eine schlimmere Nacht, aber irgendwie nickte er dann doch ein. Mit einemmal wurde es ihm schwer auf der Brust, er keuchte, riß die Augen weit auf — da hatte sich eine große, ganz fürchterlich anzusehende Schlange fest um seinen ganzen Körper geschlungen. Minch’ól verlor fast die Besinnung, er keuchte, keuchte: »Ach, was ist denn jetzt, Hilfe, Hilfe!«

»Ja, ich bin die Frau der Schlange, die du mit deinem Bogen erschossen hast. Dem, der meinem Mann so Schlimmes zugefügt, will ich es heimzahlen. Du wirst jetzt dein Leben lassen müssen!« sagte sie und schlang sich noch fester um ihn.

Als Minch’ól das hörte, war er sicher, daß er nun sterben mußte, aber er sagte doch: »Es ist zwar ganz richtig, wenn du dich am Feind deines Mannes rächen willst, aber denk doch mal nach — war nicht die Elster in einer bedauernswerten Lage? Ich sah, daß sie sterben sollte, und einfach weitergehen, das konnte ich nicht. Ich glaube nicht, daß ich Schuld auf mich geladen habe. Ich bin auf dem Weg in die Hauptstadt, um dort die Staatsprüfung abzulegen. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, so vergib mir, bitte. Wenn ich erst die Prüfung abgelegt habe, dann mach mit mir, was du willst, aber, bitte, laß mich diesmal frei!« Schweiß tropfte, strömte, so sehr bat Minch’ól. Als die Schlange ihn gehört hatte, ließ sie langsam von ihm ab. »Ja, dann werde ich dir vergeben, wenn du so ein Herz hast. Ich war ganz von Sinnen darüber, daß du meinen Mann getötet hast. Aber wenn ich dir jetzt vergebe, so heißt das noch nicht, daß du so einfach Weggehen kannst. Morgen bei Tagesanbruch, da mußt du die Glocke oben auf der zehnstöckigen Pagode im Klosterhof dreimal anschlagen. Wenn du das nicht dreimal tust, dann kann ich dir nicht vergeben. Wenn aber die Glocke dreimal erklingt, dann werde ich als Drache zum Himmel auffliegen«, das sagte die Schlange und verschwand.

Minch’ól dachte sich: >Da bin ich gerade noch einmal davongekommen.< Voller Sorgen, ob er seine Aufgabe lösen könnte, ging er auf den Klosterhof hinaus. > Wo ist denn diese Pagode? Wie hoch hängt denn diese Glocke?< dachte er, als er sich im dunklen Klosterhof umsah. Und da sah er im Dunkel etwas, was hoch zum Himmel aufragte, und er meinte, das könnte vielleicht die Pagode sein. »Ja, jetzt werde ich wohl doch sterben müssen. Wem kann es denn gelingen, eine Glocke so hoch auf der Spitze anzuschlagen? Vielleicht ein Gott allein vermag das.« Minch’ól war ganz hilflos, er starrte nur oben auf die Spitze der Pagode.

Plötzlich ertönte es von der Spitze der Pagode: »Ddeng!« Minch’ól wunderte sich sehr. »Was ist das? Ist das die Glocke? Wirklich gut! Jetzt noch einmal!« sagte er — und es tönte noch einmal: »Ddeng!«

»Ach, wie schön! Noch einmal!« sagte er, und sein Herz zitterte — und wirklich, zum dritten Mal ertönte die Glocke: »Ddeng!«

Minch’ól war so glücklich, daß er hätte herumtanzen können, er ging nahe an die Pagode heran — und dort sah er eine Elster liegen mit gespaltenem Schnabel, aus dem das Blut rann. »Ach, Elster! Hast du die Glocke angeschlagen? Ich bin dir wirklich dankbar!« sagte er, nahm die Elster vom Boden auf, drückte sie an seine Brust und weinte. »Elster, damit ich nicht sterbe, ist es mit dir so gekommen!« Minch’ól weinte, und die Elster keuchte schwer. »Kkaaak, kkaaak«, machte sie noch und starb. Minch’ól begrub die Elster neben der Pagode. Dann ging er in die Hauptstadt, bestand dort die Staatsprüfung, wurde ein hoher Beamter und hatte ein schönes Leben — und nie hat er die Elster vergessen.