Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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60. Der gutmütige Gelehrte


Dies ist eine Geschichte von einem hochgelehrten Herrn. Einmal saß er bis tief in die Nacht über seinen Büchern, als ein Räuber hereinkam und die beiden sich wohl oder übel miteinander unterhielten.

Vielleicht fünfzig Jahre mag es her sein, daß im Kreis Yangbuk in der Nähe von Kyóngju ein Gelehrter namens Ch’oe in seinem Haus studierte. Eines Nachts kam ein Räuber, eine Maske über dem Gesicht und ein Messer in der Hand, in sein Studierzimmer herein. »Was du an Geld hast, das rück heraus!« schrie er, fuchtelte dem Gelehrten mit dem blitzenden Messer vor den Augen herum.

Aber der Herr Ch’oe tat so, als ob er gar nicht hörte, gab ihm keine Antwort und las nur einfach weiter in seinen Büchern. Da brüllte ihn der Räuber an: »Du Kerl du, gib das Geld her, rück alles heraus, was du hast!« und setzte ihm die Messerspitze auf die Nase. Da erst wandte sich Herr Ch’oe um und sah den Räuber an. »Lieber Gast! Habt Ihr viel zu tun? Setzt Euch doch ein wenig! Woher kommt Ihr des Weges?« sprach er. Wieder brüllte der Räuber: »Du Kerl! Was soll das Geschwätz? Rück dein Geld heraus, ich sag dir doch, daß ich dein Geld haben will!« Diesmal sprach Herr Ch’oe: »Setzt Euch doch. Ich hab nicht mehr Geld als das hier. Ob Ihr damit zufrieden seid? « Und er holte 5300 Wón aus seinem Schreibtisch — ob das damals viel Geld gewesen ist? — und gab das alles dem Räuber.

Der riß das Geld schnell an sich, wollte zur Tür hinausstürzen. Da meinte der Hausherr: »Seid Ihr nicht zufrieden mit dem, was ich Euch gegeben habe? Das kann ich ja nicht wissen, aber ich habe Euch alles gegeben, was da ist. Wenn man von jemandem Geld bekommt, kann man dann so einfach ohne ein Wort davonlaufen? Wäre es nicht höflich, danke zu sagen, oder daß Ihr es gut brauchen könnt, oder daß Ihr noch einmal kommen wollt?« Als der Räuber das hörte, machte er die Tür noch einmal auf, sagte tatsächlich: »Danke!« und lief davon.

Als etwa ein Monat vergangen war, wurde der Räuber gefaßt und mit gefesselten Händen an den Ort seiner Tat, in das Haus des Herrn Ch’oe, gebracht. Einer der Polizisten sagte: »Dieser Räuber hat gestanden, daß er aus Eurem Haus, Herr Ch’oe, Geld gestohlen hat.« Da sagte der Herr Ch’oe: »Mir hat noch nie jemand Geld gestohlen.« Er betrachtete sich noch einmal den gefesselten Räuber. »Du, komm mal her!« sagte er. Die Polizisten sahen verwirrt den Räuber an. Zu ihnen sprach der Herr Ch’oe: »He, ihr! Wenn ein Räuber mir Geld wegnimmt — wie kann er sich dann bei mir bedanken? Ich weiß von nichts. Sehe ich aus wie einer, der aus Angst vor einem Räuber zitternd sein Geld herausrückt? Seht euch die Leute erst mal genau an, bevor ihr was redet!« Und zum Räuber sagte er: »Du, hast du vergessen, daß du dich bei mir bedankt hast? Hat dir das Geld gereicht?« Und er schien ganz froh zu sein.

Selbstverständlich mußte man dem Räuber seine Fesseln lösen, Aussagen und Beweise stimmten nicht überein, der Vorfall konnte nicht aufgeklärt werden — so wurde der Räuber freigelassen. Er brach in Tränen aus, heulte richtig, sein Herz wurde wieder redlich. Der Herr Ch’oe, der war für ihn so etwas wie ein Vater. Der Räuber wurde ein anderer Mensch und tat hinfort nur noch Gutes.