Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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61. Die Wette




Geht man aus der Stadtmitte von Kongju etwa zwanzig Meilen nach Norden, stößt man auf einen hohen Berg, den Musóng-Berg. Steigt man auf die Bergspitze hinauf, findet man eine alte, ganz alte Festungsmauer. Daß sie an einigen Stellen ziemlich verfallen ist, fällt ins Auge. Über diese Festungsmauer nun berichtet die folgende Geschichte.

In ganz alten Tagen lebte in diesen Bergen ein Jüngling mit Namen Hong Kildong zusammen mit seiner Mutter und einer älteren Schwester. Kildong und seine Schwester waren bärenstark. Die beiden prahlten immer mit ihrer Stärke, und sie liebten es, miteinander zu kämpfen. Diese Zwietracht zwischen den beiden war einfach nicht auszurotten, so entschlossen sie sich eines Tages, nun wirklich in einem Wettkampf ihre Kräfte zu messen. Das taten sie, damit alles, was Zwietracht verursachen konnte, verschwinde. Durch Sieg und Niederlage sollte besiegelt werden, wer recht und wer unrecht hatte. Alle Meinungsverschiedenheiten sollten in Zukunft vermieden werden.

Kildong zog aus Eisen gegossene Schuhe an, er wollte damit in die Hauptstadt laufen und zurück, dabei noch ein Kalb mitnehmen. Seine Schwester wollte auf einer Bergspitze eine Festung errichten. Wer zuerst sein Werk vollendet, der sollte Sieger sein — der Unterlegene aber, der sollte sterben. Eine solch grausame Verabredung trafen sie miteinander.

Kildong machte sich wohlvorbereitet auf den Weg zur Hauptstadt; seine Schwester begann, ihre Festungsmauer zu bauen. Für Kildong war es ganz schön hart, in die Hauptstadt hin- und zurückzulaufen, das ist ein Weg von sechshundert Meilen, und das mit Schuhen aus Eisen an den Füßen und einem Kalb am Seil. Auf dem Weg brach er mehr als einmal zusammen, so erschöpft war er, er mußte sich immer wieder erst einmal erholen. Das Kalb war auch ein ziemliches Hindernis für ihn. Wenn er unterwegs an die Verabredung dachte, die er mit seiner Schwester getroffen hatte, schien es ihm völlig klar, daß sein Leben verwirkt war. Aber er biß fest die Zähne zusammen, es galt nur eins, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Obwohl er für seine Körperkraft berühmt war — jetzt reute ihn die Verabredung, die er so leichtfertig getroffen hatte.

Seine Schwester aber, die schleppte in ihrer Schürze große Steine herbei, setzte sie aufeinander, holte wieder neue Steine. Alle Kraft wandte sie auf, und so ging ihr Werk gut voran. Die Mutter der beiden stand dabei, sie mußte mit ansehen, wie die Tochter allem Anschein nach den Wettkampf gewinnen würde. Ihr Herz verkrampfte sich. Alles mögliche tat sie, um die Bauarbeiten zu behindern. Sie wünschte sich nur eins — ihr Sohn sollte den Wettkampf gewinnen, nicht die Tochter. Sie hielt die Tochter fest, schwätzte dummes Zeug, ermahnte sie immer wieder, sich doch zu schonen und ein wenig auszuruhen. Unbedingt wollte sie einen Sieg der Tochter verhindern. Dabei hatte sie nur den einen Gedanken, ihrem Sohn das Leben zu retten. Doch — Stein für Stein, die Mauer schien bald fertig zu werden. Sooft sie auch nach Norden in Richtung Hauptstadt Ausschau hielt, der Sohn war noch nicht zu sehen. Die Mutter konnte sich bald nicht mehr beherrschen, wie verrückt lief sie herum. Dann kam ihr ein guter Einfall. »Ich will meiner Tochter eine Schüssel mit heißer Suppe bringen!« Eine Menge Holz sammelte sie, machte Feuer und kochte darauf eine Suppe. »He, du! Deine Mauer ist bald fertig, Kildong ist noch nicht zu sehen. Wie wäre das, wenn du erst mal deine Suppe ißt?«, ganz freundlich sprach sie, mit zarter Stimme, zu ihrer Tochter. »Ich will erst den Bau vollenden, dann kann ich essen, Mutter. Iß du ruhig zuerst!«, sie sah die Mutter an, ließ sie merken, daß sie nicht essen wollte. Die Mutter wurde unruhig, das konnte sie nicht mehr verbergen.

Die Tochter war zwar müde und hungrig, aber es war nicht mehr viel zu tun an ihrer Mauer, sie wollte die Arbeit erst vollenden. Schließlich erhob sich die Mutter, ging zu der Tochter hin, zog sie am Arm. »So, du, jetzt ißt du wirklich zuerst mal deine Suppe!« Ob sie auf die freundlichen Worte der Mutter hören wollte oder ob der Hunger sie trieb — jedenfalls fing die Tochter an, ihre Suppe zu löffeln, die die Mutter für sie gekocht hatte.

Gerade in diesem Augenblick erschien Kildong. Lange und ohne ein Wort zu wechseln, starrten sich Kildong und seine Schwester in die Augen. Im Innersten seines Herzens war Kildong sehr froh — und sehr traurig zugleich. Tief seufzte die Mutter der beiden, sie war zwar glücklich, daß ihre List gelungen war, aber sie wußte auch sehr wohl, daß nun die Tochter sterben mußte. Was geschehen sollte, geschah, die Schwester Kildongs nahm sich das Leben, sie wurde ein einsamer Geist in den Bergen.