Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

PLEASE NOTE: This is an HTML preview only and some elements such as links or page numbers may be incorrect.
Download the book in PDF, ePub, Kindle for a complete version.

63.  Die Koralle und der Pockengeist




Dies ist eine außergewöhnliche Geschichte von den Meer-Frauen, die so tapfer ihren Lebensunterhalt in der See verdienen. Mit Korallen haben sie den Pockengeist verjagt. Eine Geschichte ist das, die beispielhaft ist für die Insel, auf der drei Dinge reichlich vorhanden sind: Wind, Steine — und Frauen. Weil die Seele einer der tapfersten Meer-Frauen in die Koralle eingegangen ist, glaubt man noch heute, daß jede Meer-Frau, wenn sie auch nur ein kleines Stück davon bei sich trägt, jeden bösen Geist damit verjagen kann.

Der Pockengeist liebte den Wind über alles. Von den ersten warmen Frühlingstagen an bis in den Herbst hinein setzte er sich, immer wenn der Wind wehte, auf dessen Rücken und ließ sich spazierentragen. Die Menschen mußten, ganz gleich, ob sie etwas hatten oder nicht, immer den Pockengeist mit einem reichgedeckten Tisch empfangen. Wenn man ihn gar nicht bewirtete oder dabei auch nur den kleinsten Fehler machte, dann griff der Pockengeist in seinen Zauberbeutel, holte ein paar Pockensoldaten heraus — und ganz schnell verbreitete sich die Krankheit. Also blieb den Menschen eigentlich nichts anderes übrig, als den Pockengeist, der jedes Jahr wiederkam, gebührend zu empfangen. Dazu mußten sie oft ihren gesamten Besitz verschwenden. Aber ganz gleich, wie reich man ist — der Reichtum hat doch seine Grenzen. Nichts ist daran zu ändern.

So kam es eines Tages dazu, daß sich die Leute im Dorf alle versammelten und miteinander beratschlagten, was man denn gegen den Pockengeist unternehmen könnte. Schließlich wollten sie hohe Steinmauern errichten, die sollten den Wind abhalten. Aber das war ein Fehlschlag. Weil durch die Ritzen zwischen den Steinen der Wind hindurchwehte, konnten auch die Pockensoldaten nach Belieben eindringen.

Nochmals versammelte man sich. Jetzt wollte man tiefe Löcher in die Erde graben und darin versteckt leben. Aber auch das war ein Fehlschlag — überall, wohin der Wind kam, konnten auch die Pockensoldaten nach Belieben schalten und walten. Die Menschen waren allesamt voller Sorge — einer nach dem anderen, alle nach und nach wurden krank, bekamen Pockennarben und schiefe Gesichter. Schlimmes machten sie mit, solange sie krank waren.

Nichts war zu machen, aber sie versammelten sich aufs neue. Alles Getreide im Dorf holten sie zusammen, damit bereiteten sie viele Speisen vor, so wollten sie den Pockengeist besänftigen. Der fraß, bis sein Bauch voll war, dann tat er ganz ahnungslos: »Wann habt ihr mir denn zuletzt was zu essen gegeben?« — und alles ist nur noch schlimmer geworden.

Die Leute machten alle betroffene Gesichter. Alles, was sie zu essen gehabt hatten, war vom Pockengeist aufgefressen worden, gar nichts übriggeblieben. Ein letztes Mal wollten sie sich versammeln. Unter Tränen beschlossen sie, die Heimat, an der sie so sehr hingen, zu verlassen, irgendwohin zu flüchten.

Aber der Pockengeist blieb ihnen auf den Fersen, er verfolgte die Menschen und quälte sie weiter. Alle aus dem Dorf kamen schließlich doch noch einmal zusammen, nun waren sie entschlossen, gegen den Pockengeist zu kämpfen. Aber sie wußten, der Pockengeist, das war ein mächtiger Geist, und ihm standen auf dieser Seite nur schwache Menschen gegenüber. Wenn der Pockengeist wirklich entschieden kämpfte, dann war es mehr als wahrscheinlich, daß alle Menschen ausgerottet würden. Es gab einfach keinen Ausweg. Jeden Tag sprachen die Menschen nur über diese eine Sorge. Als letztes glaubten sie, keine andere Wahl zu haben, als den Drachenkönig im Meer um Hilfe zu bitten.

Alle baten die beste Taucherin unter den Meer-Frauen des Dorfes darum, sie dabei zu unterstützen. Sie sollte dem Drachenkönig den Wunsch aller überbringen, im Drachenpalast Zuflucht suchen zu dürfen, um dem Pockengeist zu entgehen. Denn dorthin konnte der Pockengeist bestimmt nicht kommen.

Die Meer-Frau ging gleich zum Strand hinunter. Sie suchte nach einem Weg, der sie hinunter in den Palast des Drachenkönigs führen konnte. Hin und her lief sie am Meer, so wie auch sonst, wenn sie zur Arbeit ging, nur daß sie jetzt den Weg zum Drachenpalast suchte. Aber sie konnte ihn nicht finden. Ihr Herz war voller Sorgen, immer wieder quälte sie sich ab, unbedingt den Weg zu finden, hin und her lief sie. Aber es schien aussichtslos zu sein; mit Tränen in den Augen bat sie schließlich eine Schildkröte, die sie am Meeresstrand traf, ihr zu helfen. Die aber schüttelte nur mit dem Kopf. »Ich kenne den Weg zum Palast des Drachenkönigs selbst nicht!« 

Dann bat sie einen Felsen-Geist. Als der die Geschichte der bedauernswerten Meer-Frau hörte, da gab er ihr Auskunft, ganz heimlich, wie sie den Weg zum Palast des Drachenkönigs finden konnte. Die Meer-Frau war glücklich. Der Weg zum Drachenpalast, den sie bis dahin trotz aller Mühe nicht hatte finden können, der führte durch eine Höhle im Meeresgrund. Tief holte sie Luft und tauchte gleich ins Wasser. Die Beine streckte sie aus, schneller als ein Fisch schwamm sie. Aber so lang sie auch schwamm, die Höhle schien kein Ende zu nehmen. »Eigenartig, so was kann es doch nicht geben«, sie ertrug die angestaute Luft, mit letzter Kraft versuchte sie weiterzukommen. Aber noch immer hatte sie das Ende der Höhle nicht erreicht. Ihre Atemluft war verbraucht, sie sah dem Tod ins Auge. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie mußte an die Oberfläche zurück.

Aber sie gab nicht auf. Tief holte sie Luft, tiefer als zuvor, und tief, so tief tauchte sie wieder hinunter. Doch auch diesmal war es vergebens. Ganz erschöpft war sie. Aufgeben? Das gab es nicht, weiter tauchte sie ins Meer hinunter. Wenn sie daran dachte, daß auf dem Land so viele Menschen vom Pockengeist gequält wurden, dagegen war ihre Erschöpfung nichts. Wieder holte sie tief Luft, wieder tauchte sie tief, so tief hinunter. Noch mehr gab sie sich Mühe, sie hoffte, diesmal das Ende der Höhle zu erreichen. Aber auch diesmal reichte die Luft nicht aus, bis ans Ende der Höhle zu gelangen. Völlig erschöpft, mit allerletzter Kraft preßte sie heraus: »Felsen-Geist! Felsen-Geist!« — und so, als ob der von ihrer Tapferkeit bewegt worden wäre, plötzlich befand sich die Meer-Frau in einer hellen, freundlichen Welt. Endlich trat sie vor den Drachenkönig und berichtete ihm von den Leiden der Menschen auf der Erde.

Der Drachenkönig sandte dem Felsen-Geist viele seiner Soldaten, er erteilte den Befehl, den Pocken-Geist zu vernichten. Der Felsen-Geist nahm den Befehl entgegen, schickte die Soldaten aus, den Pockengeist zu bekämpfen. Aber der griff in seinen Zauberbeutel, schickte seine eigenen Soldaten aus, die kämpften gegen die Truppen des Felsen-Geistes. Ein großes Gefecht entbrannte. Gegen die Soldaten des Pockengeistes, die auf dem Wind angeritten kamen, sollten die Soldaten des Felsen-Geistes mit bloßen Fäusten angehen. Die anderen aber hatten lange Hellebarden, Schwerter, Pfeile und Bogen, wild stürmten sie gegen die Truppen des Felsen- Geistes an. Wie viele Soldaten des Felsen-Geistes sind da nicht von den Hellebarden, Schwertern und Pfeilen durchbohrt worden! Aber wie es ihre Art ist, bissen die Soldaten des Felsen-Geistes ihre Zähne zusammen, und einen nach dem anderen vernichteten sie die Soldaten des Pockengeistes. Drei Monate und zehn Tage dauerte der Kampf, hundert Tage sind das. In dieser Zeit war die Meer-Frau, die zum Drachenkönig hinuntergetaucht war, in einen Korallenzweig verwandelt und vom Meer ans Ufer gespült worden. Kaum daß sie diesen Korallenzweig erblickten, sind die letzten Soldaten des Pockengeistes tot zu Boden gefallen, der Pockengeist selbst entfloh.

Der Felsen-Geist sah eine gute Gelegenheit, er verfolgte den Pockengeist, fing und tötete ihn auf der Stelle.

An diesem Tag türmten sich pechschwarze Wolken am Himmel auf, gleich ergoß sich ein Regenguß, ein Wolkenbruch auf die Erde. Die Menschen jubelten auf. Mit dem Regenwasser haben sie die Soldaten des Felsen-Geistes gewaschen, aber die Wunden und Narben konnten sie nicht weg waschen.

Auf der Erde kehrte nun der Frieden wieder ein. Alle Menschen dankten der tapferen Meer-Frau, die sich für sie geopfert hatte. Alle gingen wieder an ihre Arbeit. Besonders die Freude der jungen Meer-Frauen war übergroß, eine nach der anderen sprangen sie ins Wasser und spielten dort ein Korallenspiel. Ihr ganzes Leben blieben sie vom Leiden der Pockenkrankheit frei.

Dem Drachenkönig bereiteten die Menschen viele Speisen und brachten sie ihm als Opfer dar, seitdem feiert man das Drachenkönigsfest. Wegen dieser Geschichte, die aus alten Tagen überliefert ist, glauben noch heute die Meer-Frauen auf der Insel Cheju, daß sie alle bösen Geister fernhalten können, wenn sie nur ein Stück Koralle an ihrem Körper tragen.