Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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64.  Das Fuchsgericht




In alten Tagen war einmal ein Mann auf einem Bergpfad unterwegs, als plötzlich irgendwoher eine Stimme ertönte: »Hilfe!« Er blickte sich nach allen Seiten um, aber nichts war zu sehen. »Ich werde mich wohl verhört haben«, meinte er und wollte gerade weitergehen, als es wieder zu hören war: »Hilfe!« Er ging in die Richtung, aus der das so ertönte — da war ein Tiger in eine Falle gegangen, der bat um Hilfe.

Als der Mann näher kam, verlangte der Tiger: »He, Ihr, junger Herr! Helft mir doch ein wenig, ich würde Euch das nie vergessen. Bitte, helft mir!« Der Mann aber dachte sich, es könne übel ausgehen, wenn er einer so wilden Bestie Hilfe leistete, er schickte sich an, weiterzugehen. Aber der Tiger bat noch einmal: »Bitte, bitte, junger Herr! Helft mir, dann geht Eures Weges. Wenn Ihr nur einen großen Ast in die Falle hereinlegt, ist es genug.«

Da befielen den Mann doch ein wenig mitleidige Gedanken. »Aber wenn ich so einem Kerl wie dir helfe, dann werde ich doch selbst gleich gefangen und aufgefressen?« — »Was sagt Ihr denn da? Wie könnte ich jemandem, der mir Gutes getan hat, so etwas zufügen? Macht Euch nur keine Sorgen, wenn Ihr mir helft, werde ich Euch diese Freundlichkeit niemals vergessen. Bitte, schnell, helft mir!« bat der Tiger mit Tränen in den Augen.

Als der Tiger so sehr bat, konnte der Mann nicht mehr einfach so weitergehen, er suchte einen großen Ast und legte ihn in die Falle hinein, darauf konnte der Tiger aus der Falle herausklettern.

Aber — was war das? Was für ein Schreck, der Tiger machte alles ganz anders als versprochen. »Du Kerl du! Wer mich da in dieses Loch gebracht hat, wo ich sterben sollte, das war so ein Mensch wie du. Also bist du mein Feind. Schon den dritten Tag konnte ich keinen Bissen bekommen, mein Bauch hungert, ich sterbe bald. Auch wenn du mir geholfen hast, das ändert nichts, ich werde jetzt als erstes dich auffressen« — und er riß sein Maul weit auf und wollte den Mann verschlingen. Der dachte sich: >Bin ich ein dummer Kerl! So einer Bestie, die keine Gerechtigkeit kennt, zu helfen!< Er bedauerte es zutiefst, suchte nach einer Möglichkeit, dieser Gefahr zu entkommen.

»Ach, Tiger! Hör mir mal zu! Du wärst fast vor Hunger gestorben — und dann willst du ausgerechnet dem, der dir geholfen hat, ans Leben?« schalt er den Tiger aus. »Da ist nichts zu machen. Wenn man solchen Hunger hat, muß man das erste beste fressen, da kann man keinen Unterschied machen, ob das ein Wohltäter ist oder nicht«; wieder wollte er den Mann anfallen. Der versuchte mit dem Tiger über dieses und jenes zu reden, aber alles hatte keinen Sinn. Doch dann fiel ihm etwas ein. »Du, Tiger! Wir haben nun alles mögliche versucht, allein kommen wir zu keiner Lösung. Laß uns doch einen Dritten fragen, wer recht hat und wer nicht. Wenn du recht bekommst, dann sollst du mich ruhig fressen.«

Der Tiger war einverstanden. Sie fragten eine Kiefer in der Nähe. Die hörte sich an, was die beiden vorzubringen hatten, dann sprach sie: »Überhaupt sind die Menschen schlechte Kerle. Uns Kiefern hacken sie blindlings ab, machen Feuerholz aus uns, benutzen uns zum Häuserbauen. Wenn man so jemanden frißt, was macht das schon?« Der Tiger war es zufrieden. »Da hörst du es! Auch die Kiefer meint, es sei gut, dich aufzufressen«, und riß wieder sein Maul auf.

»Was die Kiefer da sagt, ist nicht nach richtigen Grundsätzen geurteilt. Laß uns noch jemanden fragen.« Wieder war der Tiger einverstanden, so gingen die beiden zu einer Kuh, der legten sie dar, warum sie gekommen waren, und baten um eine gerechte Entscheidung.

Die Kuh sprach: »Den Menschen fehlt doch jedes Gefühl der Barmherzigkeit. Uns durchbohren sie die Nasen, ziehen uns, wie es ihnen gefällt, auf die Reisfelder, beladen uns mit schweren Lasten, nutzen uns aus bis zum bitteren Ende. Und wenn wir tot sind, was machen sie dann? Sie fressen unser Fleisch! Warum soll man so einem das Leben erhalten? Tiger, ohne zu zögern, friß den Kerl auf!« Höhnisch lachte der Tiger. »Da siehst du’s. Auch die Kuh hält es für mehr als gerecht, wenn ich dich auffresse!«

Der Mann aber meinte, es könne doch nicht schaden, noch ein drittes Urteil zu hören. Da es ja zweimal einen Spruch zu seinen Gunsten gegeben hatte, war auch der Tiger ganz damit einverstanden.

Diesmal fragten sie einen Fuchs. Als der ihre Geschichte gehört hatte, schien er noch Zweifel zu haben. »Schön und gut, was ihr mir da erzählt, aber so was muß man mit seinen eigenen Augen sehen. Laßt uns doch zu der Falle gehen.« Dort angekommen, wollte er es genau wissen. »So, Tiger. Wo warst denn du?« Ohne Zögern sprang der wieder in die Falle hinunter. Als der Fuchs das sah, schien ihm die Sache ganz einfach. »Aha, jetzt weiß ich Bescheid. Du, Tiger, du bleibst schön da unten. Wenn du in der Falle sitzt, wie kannst du dann den Mann fressen? Wärst du geblieben, wo du warst, der ganze Streit wäre nicht aufgekommen!«