Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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68.  Der Dank einer Schlange




In alten Tagen besuchte ein junger Bursche die Dorfschule. Eines Tages, als er auf dem Weg in die Schule war, traf er viele andere Kinder, die eine Schlange gefangen hatten und mit Steinen auf sie einschlugen. Er sah die Schlange, die sich unter den Schlägen hin und her wand, Mitleid hatte er mit ihr, er nahm den Kindern die Schlange weg und warf sie ins Wasser, so rettete er ihr das Leben.

Ein paar Jahre waren vergangen, aus dem Burschen war ein junger Mann geworden, der bald heiraten sollte. In der Nacht vor dem Hochzeitsfest träumte er einen Traum, eine Schlange erschien ihm. »Ich will es gutmachen, daß du mir früher einmal das Leben gerettet hast«, sagte sie, »solltest du morgen, in der Hochzeitsnacht, deinen Kopf mit Öl beschmieren, wisch es ja nicht ab!« ermahnte sie ihn und verschwand.

Am nächsten Tag, als das Hochzeitsfest zu Ende war, die Gratulanten sich alle empfohlen hatten, ging er ins Brautgemach. Als der Bräutigam seine Kleider auszog, paßte er nicht auf, er stieß gegen die Hängelampe, und sein Kopf wurde ganz mit dem Lampenöl beschmiert. Da fiel ihm ein, was die Schlange im Traum zu ihm gesagt hatte, er wischte das Öl nicht ab, ließ alles, wie es war.

Es wurde spät, tief in der Nacht hörte er, halb im Schlaf, nebelhaft, wie sacht die Tür geöffnet wurde — herein kam ein Mann, neun Fuß groß, eher noch größer! Zuerst betastete der vorsichtig den Kopf des Bräutigams, aber weil der mit Öl beschmiert war, dachte er, es sei die Braut. Die Braut, die in Wirklichkeit danebenlag, schrie er an: »Wer wagt es, mir meine Geliebte zu rauben!«, stach mit einem Messer auf sie ein und entfloh. Durch den plötzlichen Tod seiner Braut war der Bräutigam in einer dummen Lage.

Alle waren sich einig — der Bräutigam selbst nur konnte der Mörder sein. Er wurde festgenommen und zum Amtshaus geführt. Einige Tage hielt man ihn dort gefangen, dann sollte er hingerichtet werden.

Am Morgen, an dem das Todesurteil vollstreckt werden sollte, wusch sich einer der Beamten — da wehte ihm der Wind ein Pappelblatt in seine Waschschüssel. Eine seltsame Ahnung beschlich den Beamten. Das Pappelblatt war in der Mitte mit Löchern übersät. Gleich ließ er die Vollstreckung des Todesurteils aufschieben.

Am nächsten Tag rief er berühmte Wahrsager aus allen acht Provinzen des Landes zusammen. Sie bat er zu klären, was denn das Pappelblatt für eine Bedeutung haben könne, das Pappelblatt mit den Löchern, das in seine Waschschüssel gefallen war.

Einer der Wahrsager trat vor. »Wenn es in einem Pappelblatt ein Loch gibt, dann heißt das auf Chinesisch Yu Yóphwan. Also ist Yu, das heißt Pappel, ein Familienname und Yóphwan, das heißt Loch im Blatt, ein Vorname — genauso, nämlich Yu Yóphwan, muß der wirklich Schuldige in diesem Mordfall heißen!«

Der Beamte schickte Leute aus, den zu fangen, der Yu Yóphwan hieß. Schließlich fand man in einem Tempel, weit hinten in den Bergen, unter den Mönchen einen, der hieß Yu Yóphwan. Als man ihn ein wenig hart anfaßte, legte er ein Geständnis ab. »Ich habe das Mädchen lange Zeit schon geliebt. Als es dann soweit war, daß ich mein Ziel nicht erreichen konnte, wollte ich den Bräutigam umbringen. Aber an seiner Statt habe ich die Braut ermordet.«

So hat eine Schlange, nicht ein Mensch, als die Zeit reif war dafür, eine alte Schuld abgetragen.