Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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69.  Der Trocken-Kam und der Tiger




In alten Tagen lebte irgendwo in den Bergen ein Tiger. Es hungerte ihn, und so ging er in tiefer Nacht ins Dorf hinunter und schlich sich in den Garten eines Hauses, um sich wenigstens ein Kalb zu fangen und zu fressen.

Gerade da weinte in einem Zimmer dieses Hauses ein kleines Kindlein steinerweichend. Die Mutter des Kindleins sagte, um es zur Ruhe zu bringen: »Ein Gespenst kommt!«, doch es heulte wie zuvor. Da sagte die Mutter: »Ein Schakal kommt!« — doch das Kindlein heulte weiter. Auch als sie sagte: »Der Tiger ist gekommen!« schrie das Kind. Ein wenig später sagte sie: »Da ist ein Trocken-Kam!« — und tatsächlich, das Heulen des Kindleins hörte gleich auf.

Der Tiger, der das alles von draußen mit angehört hatte, dachte sich: >Ich bin doch unter den wilden Tieren dieser Welt der König, aber dieses Kindlein da hat nicht aufgehört zu heulen, als die Mutter ihm drohte, der Tiger sei gekommen. Doch als sie vom Trocken-Kam sprach, hat es nicht mehr geheult. Wenn ich es genau überlege — sollte vielleicht der Kerl, der Trocken-Kam heißt, eine noch schrecklichere Bestie sein als ich?< Und er schlich sich in den Stall und legte sich ganz betrübt auf den Bauch. Gerade da schlich sich auf allen vieren ein Dieb in den Stall, um eine Kuh zu stehlen. Er betastete den Tiger, hielt ihn für eine Kuh, zog ihn am Schwanz hinaus und bestieg ihn. Der Tiger dachte sich dabei: >Sollte dieser Kerl vielleicht der Trocken-Kam sein? Er fürchtet sich gar nicht vor mir, steigt einfach auf mich. Das ist wirklich eine üble Sache!< Um den Trocken-Kam, der auf seinem Rücken saß, abzuwerfen, hüpfte der Tiger mit wilden Sprüngen fort. Der Dieb, um nicht vom Rücken herunterzufallen, klammerte sich verzweifelt fest. Der Tiger sprang schnell wie ein fliegender Pfeil durch überflutete Reisfelder, über Trockenfelder und rannte auf die Berge zu. Aber auch als er in die Berge kam, in dieses Tal, in jenes Tal, hierhin und dorthin sprang, um den auf seinem Rücken geradezu festgeklebten Trocken-Kam abzuwerfen — alles war umsonst, der Dieb hielt sich nur um so mehr fest, um nicht herunterzufallen.

Die ganze Nacht über sprang er so herum, bis es schließlich mit der Morgendämmerung hell wurde. Als der Dieb dann sah, auf was er ritt, daß das nicht, wie er gedacht, eine Kuh war, sondern ein großer Tiger, in dem Augenblick wurde er von Furcht befallen und wäre zu gern heruntergesprungen, aber weil der Tiger zu schnell rannte, konnte er das einfach nicht wagen.

Doch gerade im rechten Augenblick lief der Tiger unter einem mächtigen alten Baum hindurch, und so entkam der Dieb — er faßte nach einem Ast und hielt sich daran fest. Da dachte der Tiger bei sich: >Diesen schrecklichen Trocken-Kam habe ich abgeworfen, für diesmal bin ich mit dem Leben davongekommen<, und damit der sich nicht noch einmal festklammern konnte, lief er gleich, ohne sich erst zu besinnen, weiter. Als er ein gutes Stück entfernt war, tauchte ein Bär auf. Der hatte gesehen, wovor der Tiger in großen Sätzen flüchtete. »He, Tiger! Warum machst du dich so schnell davon?« fragte er. Der Tiger keuchte: »Keine Worte! Es ist eine üble Sache. Ich bin von einem Kerl, der Trocken-Kam heißt, gefangen worden und wäre fast ums Leben gekommen. Und damit er sich nicht noch einmal in mir festkrallen kann, mache ich mich möglichst schnell aus dem Staub.«

Der Bär verstand nicht so recht, was der Tiger da erzählte. Daß der Trocken-Kam von so schrecklicher Gestalt war, daß man vor ihm flüchten mußte, daß es überhaupt ein wildes Tier gab, das Trocken-Kam hieß, das alles hörte der Bär zum ersten Mal, und so sagte er: »Erzähl mir das doch ein bißchen genauer!« — und da erzählte ihm der Tiger die ganze Geschichte, wie er, kaum daß er ein Kalb fangen und fressen wollte und in einen Bauernhof eingedrungen war, von diesen und jenen Ereignissen betroffen, schließlich auf der Flucht gewesen sei.

Als der Bär den Bericht des Tigers ganz gehört hatte, lachte er schallend. »Du hast dir da selbst unnötig Angst gemacht, so ist das. Was da auf deinem Rücken gesessen hat, war nichts anderes als ein Mensch. Wenn wir uns beeilen, können wir den Kerl noch fangen und fressen.« Aber der Tiger hatte Angst. »Den Kerl fangen und fressen? Das könnte uns schlecht bekommen! Ich, ich geh nicht«, und er schickte sich an, weiter zu flüchten. Da sagte der Bär: »Wie wäre das wohl, wenn ich zuerst dahin gehe, wo der Kerl ist, und du hinter mir herkommst?« Und sie machten sich auf den Weg.

Der Dieb war mit knapper Not vom Rücken des Tigers heruntergekommen, hatte sich so gerettet und war in ein Loch des alten Baumes geklettert, um dort versteckt zu beobachten, was der Tiger weiter unternahm. Mit ansehen mußte er, wie der Tiger dabei war, zusammen mit einem Bären zurückzukommen. Angst befiel ihn, todesstarr verharrte er.

Als der Bär und der Tiger den alten Baum erreicht hatten, in dem sich der Dieb versteckt hielt, entdeckten sie ihn zwar bald in seinem Baumloch und wollten ihn fangen, sie wußten aber nicht, wie sie das anstellen sollten.

Der Bär sah den Tiger an. »Ich werde wohl auf den Baum klettern und den Kerl fangen, versuch du derweilen, den Baum von unten umzustürzen.« Und kletterte auf den Baum hinauf. Als er sah, daß der Bär sich anschickte, auf den Baum zu klettern, verkroch sich der Dieb in den tiefsten Grund des Baumlochs. Der Bär konnte ihn nicht herausholen. Deshalb setzte sich der Bär flach über die Baumhöhle, um den Menschen am Atmen zu hindern und ihn so zu Tode zu bringen. Der Tiger biß Holz ab, grub mit seinen Tatzen die Wurzel aus, so daß es fast dazu kam,, daß der Baum sich senkte.

Der Dieb mußte das still mit ansehen, er hatte den sicheren Tod vor Augen. >Das sieht schlimm aus<, dachte er sich. Doch da sah er nach oben und — zwischen den Beinen des Bären etwas hängen und sacht hin und her schaukeln. >Fein, das ist eine gute Gelegenheit!< dachte sich der Dieb, schnallte seinen Gürtel ab, machte eine Schlinge damit, die legte er um das, was da hin und her baumelte, und zog mit aller Kraft zu. Kaum hatte er angefangen zu ziehen, brach der Bär in schrille Schreie aus. »Au, au, ich sterbe!«

Als der Tiger, der gerade dabei war, die Wurzeln durchzubeißen, hörte, wie der Bär diesen Todesschrei ausstieß, meinte er: »Also doch! Der dumme Kerl hat nicht auf mich hören wollen, ist da hinaufgeklettert. Jetzt hat ihn der Trocken-Kam gefangen, der wird ihn sicher auch fressen«, und ohne sich auch nur einmal umzusehen, ergriff er die Flucht.

Der Bär wand sich hin und her, er schüttelte sich, um aus der Schlinge herauszukommen, doch je mehr er sich abmühte, um so mehr rieb er sich seine Nase an den Baumzweigen und zerkratzte sich die ganze Haut. Mit aller Kraft wollte er da herauskommen, und deshalb rieb er sich den ganzen Körper wund, bis das rohe Fleisch herauskam und er schließlich starb. Der Dieb war noch einmal mit dem Leben davongekommen, er kroch aus seiner Baumhöhle hervor. Steine häufte er aufeinander, legte das Fleisch des Bären obendrauf, röstete und verspeiste es.

Nachdem der Tiger eine Weile weggelaufen war, sah er doch einmal zurück, um zu erfahren, wie es mit dem Bären geworden wäre. Als er sah, daß der Trocken-Kam offensichtlich fort war und ein Mensch das Bärenfleisch aß, lief dem Tiger nur so der Geifer aus dem Mund, und er schlich zu dem Dieb und verlangte einen Happen Fleisch.

»Gut, also, nur wenn du den ersten Happen Fleisch, den ich dir zuwerfe, mit dem Mund auffangen und fressen kannst, gebe ich dir mehr. Wenn du ihn nicht auffängst, bekommst du nichts!« sagte der und warf ihm einen glühend heißen Stein zu. Der Tiger, der den Stein für einen Happen Fleisch hielt, fing ihn schnell auf, bevor er zu Boden fallen konnte, und verschluckte ihn. Als der heiße Stein aber in seinem Bauch hin und her rollte, konnte es der Tiger nicht ertragen. Er stürzte sich in einen Fluß und schnappte nach Wasser — und er trank so viel davon, daß sein Bauch aufplatzte und er starb.