Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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72. Die Alte und der weiße Tiger




Wenn man in der Präfektur Kongju vom Kreis Kyeryong ungefähr zehn Meilen geht, kommt man zu einem Tempel, der heißt Tempel zum Neuen Anfang.

In der Paekche-Zeit lebte in der Nähe dieses Tempels eine alte Frau. Obwohl sie ganz allein war, gönnte sie sich keine Ruhe, immer arbeitete sie fleißig. Sie war eine Anhängerin der buddhistischen Lehre, hörte oft im Tempel, wie die heiligen Texte rezitiert wurden, studierte auch für sich allein die Lehre und erlangte schließlich die Erleuchtung.

In der Nähe des Hauses der Alten waren die Kyeryong-Berge, damals noch voller wilder Tiere. Unter ihnen war besonders ein weißer Tiger berüchtigt, eine wilde Bestie, die schon ein paar tausend Jahre alt sein mochte.

Dieser weiße Tiger hatte einen Wunsch — wenn sich nur die Gelegenheit ergäbe, wollte er die Alte auffressen. Aber es war gar nicht so einfach, eine alte Frau zu fangen, die schon die Erleuchtung erlangt hatte, weil sie nämlich immer im voraus wußte, wann der Tiger in ihr Haus kommen wollte. So konnte sie immer rechtzeitig etwas unternehmen. Sie sagte einen Zauberspruch auf, schrieb eine Zauberformel auf ein Papier und heftete das an einen Pfosten ihres Hauses — und für des Tigers Augen waren weder Haus noch alte Frau zu sehen. So gerne der weiße Tiger sie auch fressen wollte, er schaffte es einfach nicht, sie zu fangen.

Eines Tages schneite es so viel, daß die ganze Welt in Silber getaucht war, der eisige Nordwind blies bitterkalt. Der weiße Tiger fror und war so hungrig, er konnte es nicht mehr aushalten, mitten in der Nacht machte er sich auf zum Haus der alten Frau. Doch, was war das? Im Haus der Alten war kein Lebenszeichen zu bemerken. Ganz leise öffnete der Tiger die Tür — die Alte, die war nicht da, ihr Zimmer leer. >Eine gute Gelegenheit< dachte er, schlich sich hinein und legte sich ins Zimmer. An diesem Tag war Markt in Kyóngch’ón, dort war die Alte hingegangen und bis spät in der Nacht noch nicht zurückgekommen.

>Heute nacht bietet sich die beste Gelegenheit< dachte der weiße Tiger, er brauchte ja nur zu warten, bis die Alte zurückkam. Sehr spät in der Nacht kam sie dann endlich vom Markt in Kyóngch’ón nach Hause zurück. Weil sie vom Markt kam, konnte sie gegen den Tiger nichts, aber auch überhaupt nichts unternehmen, sie war einfach zu erschrocken. Bei sich dachte sie: >Es ist ein Fehler gewesen, zum Markt zu gehen.< Sie fragte den Tiger, warum er gekommen sei, der aber kannte kein Zögern, gleich wollte er sich auf die Alte stürzen und sie auffressen. >Wie kann ich nur aus dieser Gefahr entkommen?< fragte sie sich.

Eine Zauberformel aufschreiben, irgendeinen Zauber bewirken — das mußte gehen. Aber der Tiger bemerkte gleich, was sie vorhatte. Sie konnte sich nicht einmal ein bißchen bewegen. Sie bat den Tiger, wenigstens ihren letzten Wunsch anzuhören. Der Tiger versprach ihr, darauf noch einzugehen, und dann aber Schluß!

Die Alte schlug ihm einen Eßwettkampf vor. Bedingung war: der Verlierer sollte das tun, was der Gewinner von ihm verlangen würde. Die Alte ging in die Küche, füllte zwei getrocknete Kürbisschalen — eine mit weißen Reiskuchen, die andere mit Porzellanscherben, ganz voll machte sie die und brachte sie herein. Die Kürbisschale mit den Porzellanscherben gab sie dem Tiger, die mit den weißen Reiskuchen, die behielt sie selbst.

Der Wettkampf hatte kaum richtig angefangen, schon hatte die Alte ihre Reiskuchen alle aufgegessen, der Tiger aber hatte noch keinen Bissen hinunterbekommen.

Beides war von weißer Farbe, aber wenn der Tiger das seine in den Mund steckte, dann waren es Porzellanscherben, die ihm den Gaumen zerschnitten. Aber er dachte, daß das, was die Alte aß, genau das gleiche wäre wie seins. So verlor schließlich der Tiger den Wettkampf.

Feierlich erklärte die Alte: »Von nun an wirst du nie mehr in die Berge zurückkehren. Bis jetzt hast du schon zu viele Menschen gefressen, das ist eine Schuld, die eigentlich nie mehr gutzumachen ist. Nun werde ich dich durch meine Zauberkraft in einen Menschen verwandeln, und wie Mutter und Sohn wollen wir dann voller Zuneigung zusammenleben.«

Der Tiger hörte das, er brüllte úrúrúng, es ging durch Mark und Bein. Er war ganz von Sinnen bei dem Gedanken, daß er Frau und Kinder in den Bergen nie mehr wiedersehen sollte. Die Alte murmelte einpaar heilige Worte, schrieb eine Zauberformel auf ein Blatt Papier und ließ es im Wind davonfliegen, und im Augenblick war der Tiger in einen Menschen verwandelt. Gesagt, getan — sie nahm ihn wie einen Sohn auf. Wie Mutter und Sohn lebten sie zusammen, ein friedliches Leben führten sie miteinander.

Man sagt, immer wenn von da an im Lande etwas Schlimmes geschah, ertönte von den Kyeryong-Bergen her ein Gebrüll, das alle erschütterte. Das hat damals angefangen, bevor der Tiger in einen Menschen verwandelt worden ist, und ist heute noch nicht zu Ende, wie man sagt.