Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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75. Chach’óngbi




In alten Tagen lebte ein gelehrter junger Herr mit Namen Mun Kuksóng, der war noch ledig. Er entschloß sich, in die Hauptstadt aufzubrechen, um sich dort weiterzuüben im Bogenschießen und auch, um die Kunst des Schönschreibens, die Kalligraphie, weiterzustudieren.

Er war noch nicht weit von seinem Heimatdorf entfernt, als er auf ein Mädchen traf, das am Bach Wasser schöpfte. Der Name dieses Mädchens war Chach’óngbi, das heißt »Wunschkind«, so hatten ihre Eltern sie genannt, weil sie sich, was selten vorkommt, wirklich eine Tochter gewünscht hatten.

Der junge Herr Mun, kaum hatte er ihre Schönheit gesehen, hatte er auch schon sein Herz verloren. Er wollte versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und trat auf sie zu. »Mädchen, laßt mich einen Schluck Wasser trinken!« Chach’óngbi schien schüchtern, ohne ein Wort reichte sie ihm eine getrocknete Kürbishälfte mit Wasser — aber die Blätter eines Weidenzweiges streifte sie ab und streute sie darauf. Herr Mun blies die Weidenblätter zur Seite, trank das Wasser, versuchte es noch einmal. »Mädchen, Ihr seid hübsch, aber Ihr scheint kein gutes Herz zu haben«, sagte er und drohte ihr im Scherz mit dem Weidenzweig. Was war das — wider Erwarten machte das Mädchen zwar ein abweisendes Gesicht, doch ihre Worte belehrten ihn eines Besseren: »Junger Herr, es schien mir, daß Ihr es eilig hattet, Euren Weg zu gehen. Wenn man es eilig hat und Wasser trinkt, dann kann man sich leicht verschlucken. Die Blätter hab ich nur hineingestreut, damit Ihr langsam trinkt.« Nun mußte der Herr Mun klein beigeben. »Das hab ich nicht gewußt, tut mir leid.«

Weil er so den kürzeren gezogen hatte, wollte er lieber sehen, daß er schnell weiterkam. Diesmal aber war es das Mädchen, das ihn flink ansprach: »Junger Herr, wohin zieht Ihr denn?« — »Ich bin auf dem Weg in die Hauptstadt, dort will ich das Schönschreiben und das Bogenschießen weiterstudieren.«


Zuerst sah es so aus, als ob das Mädchen nichts mehr zu sagen hätte, dann aber machte es doch noch einmal den Mund auf. »Ja, Ihr, junger Herr, wenn es Euch nicht lästig ist — könntet Ihr vielleicht nur eine Stunde hier warten? Mein Bruder, der will nämlich auch in die Hauptstadt gehen, um dort zu studieren. Wie wäre denn das, wenn Ihr vielleicht Freunde werden und die Reise zusammen unternehmen könntet?« — sehr höflich fragte sie.

Der junge Herr Mun hätte niemals gewagt, jemanden um so etwas zu bitten, aber eigentlich war das etwas, was er sich immer gewünscht hatte — mit einem Freund zusammen in der Hauptstadt studieren. >Und wenn er noch dazu der Bruder eines so hübschen Mädchens ist ...<, dachte er sich, sagte schnell zu, er wolle warten.

Kaum war Chach’óngbi nach Hause gekommen, schon fing sie an, bei ihren Eltern zu betteln. »Ich möchte in die Hauptstadt gehen und dort studieren!« Nicht im entferntesten hatten die Eltern jemals an so etwas gedacht, sie waren mehr als erstaunt, wurden blaß. »Einen Sohn können wir nicht in die Hauptstadt schicken, was soll denn dann ausgerechnet ein Mädchen wie Chach’óngbi dort?« fragten sie sich.

Die aber wollte sich nicht hindern lassen. Die Eltern redeten ihr gut zu, schimpften mit ihr, aber schließlich und endlich meinten sie, würde die Tochter das sowieso nicht tun, so sagten sie: »Mach, was du willst!« Sie wird schon bleiben, das glaubten die Eltern fest.

Wollte sie ihre Eltern ärgern? Blitzschnell, bevor diese auch nur ein weiteres Wort sagen konnten, lief sie in das Zimmer ihres Bruders, zog Männerkleider an und machte sich davon, Vater und Mutter konnten nicht einmal mehr fragen: »Gehst du wirklich?«

Chach’óngbi selbst, nicht ihr Bruder, kam dorthin zurück, wo der Herr Mun wartete. Unbekümmert, ja frech begrüßte sie ihn. Gemeinsam brachen sie auf, aber schon bald kam dem jungen Herrn Mun die Sache verdächtig vor. Zuerst einmal war es seltsam, daß der Bruder allein gekommen war, gleich nachdem seine Schwester mit ihm gesprochen hatte. Wäre es nicht selbstverständlich gewesen, wenn seine Schwester mit ihm zusammen gekommen wäre, um sie miteinander bekannt zu machen? Aber noch eigenartiger erschien es ihm, daß Bruder und Schwester so ganz das gleiche Gesicht hatten. Der Bruder, der hatte wirklich ein Mädchengesicht.

Allen Mut nahm der junge Herr Mun zusammen, er wollte die Wahrheit herausfinden. »Du, sag, bist du nicht das Mädchen, das mir Wasser zu trinken gegeben hat?« Wie überrascht war er über die Antwort, die er bekam: »Laß uns einen Wettkampf machen!« — »Was redest du denn da von einem Wettkampf?« Wirklich verblüfft war er. »Wir wollen Bogenschießen! Wer am weitesten schießt, den soll der andere als älteren Bruder ehren.« Der junge Herr Mun stimmte gleich zu, und gleich hat er verloren — er schaffte es nicht, weiter als zwölf Klafter zu schießen, Chach’óngbi dagegen schoß doppelt so weit, vierundzwanzig Klafter!

Wie ausgemacht mußte der junge Mun fortan Chach’óngbi als älteren Bruder verehren. Den Weg in die Hauptstadt setzten sie fort. Aber in seinen Augen war es noch immer das Mädchen, das Männerkleider angezogen hatte. Ein Stück hatten sie zurückgelegt, da fing er wieder an: »Ich kann mir nicht helfen, Bruder, aber Ihr seht wie ein Mädchen aus.« Als er so weiterredete, machte Chach’óngbi wieder einen Vorschlag, der ihn mehr als überraschte: »Wenn wir pinkeln müssen, wird schon alles klarwerden.«

Das war ein Anblick! Die beiden stellten sich auf einen Hügel und pinkelten gleichzeitig los — und der Herr Mun, der verlor wieder. Sein Bogen, der reichte nur zwei Häuser weit; Chach’óngbi aber, die nahm ein Bambusröhrchen zu Hilfe, ohne daß er etwas merkte, und kam fünf Häuser weit. Jetzt mußte der junge Herr Mun zugeben, daß Chach’óngbi ein Mann war.

Sie setzten ihren Weg fort, gelangten in die Hauptstadt. Dort kam es dazu, daß der Herr Mun und Chach’óngbi ein Zimmer miteinander teilen mußten. In der ersten Nacht holte Chach’óngbi einen Wasserkübel, stellte den zwischen die beiden Schlafplätze. »Wir wollen beide aufpassen, daß wir den Wasserkübel nicht umstoßen!« Herr Mun war einverstanden, dachte sich nichts Besonderes dabei und schlief ein mit dem Vorsatz, den Wasserkübel nicht einmal zu berühren.

Als es Morgen wurde, räumte Chach’óngbi den Wasserkübel weg, am Abend holte sie ihn wieder hervor. So lebten sie in einem Zimmer, studierten miteinander, bis eines Tages der junge Herr Mun einen Brief von zu Hause bekam. Was da drinstand? Die Eltern hatten ein Mädchen für ihn gesucht, er sollte schnell nach Hause kommen und dort das Mädchen heiraten.

Als Chach’óngbi vom Inhalt des Briefes erfuhr, riet sie ihm zu antworten, er wolle erst fertigstudieren, dann erst heiraten, und sie fügte hinzu: »Wenn ich fertigstudiert habe, dann werde ich auch heiraten.« Wie sie ihm vorgeschlagen, schrieb Mun einen Brief nach Hause. Bald darauf kam die Antwort von seinem Vater: »Wenn du nicht sofort nach Hause kommst, um zu heiraten, dann bist du nicht mehr unser Sohn«, das war in diesem Brief zu lesen. Ganz verzweifelt war er, was er denn machen sollte, weiter kamen Briefe, alle des gleichen Inhalts.

Zu Chach’óngbi sagte er: »Sieht so aus, als ob mir nichts anderes übrigbleibt als zurückzukehren«, sie meinte nur dazu: »Dann ist wohl nichts zu machen«, sonst nichts. Doch als er alles eingepackt hatte, sagte Chach’óngbi plötzlich: »Ich geh auch mit.« — »Nein, Bruder, habt Ihr denn nicht gesagt, Ihr wolltet erst in die Heimat zurückkehren, wenn Ihr fertig seid mit Euren Studien? Bleibt nur bitte hier, ich will gleich nach der Hochzeit zurückkommen und weiterstudieren.«

Aber Chach’óngbi, die ernstlich in den jungen Mann verliebt war, hatte kein Herz dafür, jetzt allein in der Hauptstadt zu bleiben und noch länger zu studieren. Daß sie ihre Eltern verlassen, Männerkleider angezogen hatte, daß sie dem jungen Herrn Mun bis in die Hauptstadt gefolgt war, das alles hatte seinen Grund nur darin, daß er ihr gefallen hatte.

»Nein, ich möchte auch mal wieder meine Eltern sehen, und schließlich — bei deiner Hochzeit will ich ja auch dabeisein.« Herr Mun hatte keinen besonderen Grund, gegen eine gemeinsame Rückkehr Einwände zu machen, so brachen sie beide auf in die Heimat, wie sie auch zusammen gekommen waren.

Nach langem Weg kamen sie wieder zu dem Bach, wo sie sich zuerst begegnet waren. Der Herr Mun, der wäre gedankenlos dort vorbeigelaufen, nicht so Chach’óngbi. »Ja, jetzt sind wir fast zu Hause, laß uns noch ein Bad nehmen und dann auseinandergehen.« Wie Chach’óngbi vorschlug, nahmen sie ein Bad, selbstverständlich badete Chach’óngbi als älterer Bruder oben am Bachlauf, während Mun unten baden mußte.

Chach’óngbi hatte etwas ganz anderes im Sinn — ein Blatt von einem Weidenbaum riß sie ab, darauf schrieb sie: »Mun Kuksón, junger Herr Mun! Junger Herr, der Ihr drei Jahre mit mir im gleichen Zimmer geschlafen habt und nicht einmal wißt, ob ich ein Mädchen bin oder ein Mann! Was braucht Ihr zu studieren, was braucht Ihr zu heiraten! Als wir uns hier zum ersten Male begegnet sind, habt Ihr nicht gewußt, junger Herr, warum ich Euch Weidenblätter aufs Wasser gestreut habe!« Das beschriebene Weidenblatt ließ sie ins Wasser fallen, dann ging sie einfach nach Hause. Von alledem wußte der junge Herr Mun nichts. Er wusch sich sorgfältig, sah einmal auf — und sein Blick fiel auf das Weidenblatt, das im Bach schwamm. Waren das nicht Schriftzeichen, da auf dem Blatt? Neugierig war er, las, was das Mädchen geschrieben hatte. Schnell zog er sich an, lief den Bachlauf hinauf, aber von Chach’óngbi war nicht einmal der Schatten mehr zu sehen.

Entmutigt ging er nach Hause, zu seinen Eltern sagte er, daß er nicht heiraten wollte. Da konnten die Eltern nicht ruhig bleiben. »In beiden Familien ist alles vorbereitet, womit bist du denn nicht zufrieden?« — laut schrie der Vater, daß die Familie ihr Ansehen verlieren würde.

»Ich will nicht heiraten!« — »Du mußt aber heiraten!«, so stritten sie, und der festgesetzte Hochzeitstag kam immer näher. Mit sich kämpfte der junge Herr Mun. »Ich bin vielleicht dumm gewesen, nicht einmal unterscheiden konnte ich, ob du ein Mann bist oder ein Mädchen. Trotzdem — wäre es nicht besser gewesen, wenn du beim Abschied nur ein Wort gesagt hättest? Auf keinen Fall werde ich das Mädchen heiraten, das meine Eltern für mich ausgesucht haben!« — einen solchen Brief schrieb er, schickte ihn an Chach’óngbi.

Die hatte auch jeden Tag immer nur an den jungen Herrn Mun gedacht, aber es gab ja für sie beide keine Möglichkeit, zusammenzukommen, das mußte sie jetzt spüren. Warum? Jemand hatte bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten, den Eltern war es völlig gleichgültig, was Chach’óngbi selbst darüber dachte, sie wollten ihre Tochter zur Heirat zwingen.

Der junge Herr Mun schrieb einen Abschiedsbrief, bat darum, seinen Leichnam an einer bestimmten Stelle zu begraben, dann nahm er sich das Leben — das alles am Vorabend des Hochzeitsfestes. Nach alldem wurde aus einer Hochzeit ein Begräbnis! Chach’óngbi hörte auch diese schlimme Nachricht, sie fand heraus, wo man den jungen Herrn Mun begraben hatte. Bald kam auch für sie der Hochzeitstag, sie bestieg eine Sänfte, in der man sie in das Haus ihres Bräutigams bringen wollte.

Unterwegs kam sie am Grab des jungen Herrn Mun vorbei, sie bat die Träger, eine Pause zu machen, die Sänfte wurde abgesetzt. Sie stieg heraus, rannte zu dem Grab, warf sich auf den Boden und heulte laut los: »Mun Kuksóng, junger Herr Mun! So tief schlaft Ihr. Ich bin es, das Wunschkind meiner Eltern, Chach’óngbi! Wenn du mich liebst, dann mach dein Grab auf, auf für mich!« Und wirklich, das Grab tat sich auf, das Mädchen sprang hinein.

Ängstlich war ihr Bräutigam herbeigeeilt, gerade noch konnte er den Rocksaum fassen. An ihn richtete Chach’óngbi ihre letzten Worte: »Von meinem Rocksaum habt Ihr einen Fetzen Stoff abgerissen, macht Mücken daraus, macht Schnaken daraus!« Kaum hatte der Bräutigam das Stück vom Rocksaum in seiner Hand, schloß sich das Grab.

Von da an gab es Mücken, von da an gab es Schnaken und all die anderen Insekten auch, gewiß sind die alle aus dem abgerissenen Rocksaum der Chach’óngbi entstanden.