Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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82. Bär und Wildschwein




Es lebten einmal einBär und ein Wildschwein, die waren beide ein paar hundert Jahre alt. Überall in den Bergen streiften sie umher, bis sie sich eines Tages zufällig begegneten. Der Bär sah das Wildschwein zuerst. »Ihr seid der Herr Wildschwein?« — »Ja, der bin ich, und Ihr, Ihr müßt der Herr Bär sein. Von wo kommt Ihr denn?« — »Ja, ich komme vom Halla-Berg auf der Insel Cheju.« — »An einem schönen Ort seid Ihr zu Hause. Meine Heimat ist der Stammvater aller Berge, der Paektusan.« — »Wahrhaftig, auf einem hohen Berg seid Ihr daheim. Ich bin froh, daß wir uns heute hier getroffen haben.« — »Wirklich? Nun, ich fühle genau das gleiche wie Ihr, es hat den Anschein, daß wir uns getroffen haben, weil das Wetter so schön ist heute.« — »Nein, ich glaube, diese Begegnung ist uns vom Schicksal vorherbestimmt, wo wir doch in Nord und Süd weit voneinander entfernt unsere Heimat haben. Schon mein ganzes Leben hab ich mir vorgenommen, mal um die ganze Welt zu wandern, um die Gefühle der Menschen, ihre Gebräuche kennenzulernen, Berge und Flüsse zu betrachten. Aber ich bin nie dazugekommen. Wo wir uns doch jetzt getroffen haben — was haltet Ihr davon, daß wir uns gemeinsam auf die große Reise begeben?«

Das Wildschwein riß sein großes Maul weit auf, der Geifer lief ihm heraus. »Da habt Ihr was Wahres gesagt. Auch ich habe mir ernsthaft vorgenommen, mir die Welt anzusehen, es hat mir nur jemand gefehlt, mit dem ich zusammengehen konnte. Da ich jetzt Euren Vorschlag gehört habe, was soll ich viel reden — ich bin ganz einverstanden. Laßt uns gleich aufbrechen«, so besprachen sie die Sache miteinander, und gleich machten sie sich auf den Weg.

Bär und Wildschwein kamen auf ihrer Wanderung zu diesem Berg, zu jenem Berg, überall bewunderten sie die schöne Landschaft. Sie waren noch nicht lange unterwegs, als der Bär zum Wildschwein sagte: »Wenn wir in unserer Gestalt herumlaufen, macht alles zu viele Schwierigkeiten. Wir wollen unsere wahre Gestalt verbergen, wollen uns in Menschen verwandeln. Ich habe von einem Einsiedler am Halla-Berg die Kunst gelernt, meine Gestalt zu verändern, es ist gar nicht schwer.« — »Da habt Ihr völlig recht, ein guter Gedanke ist das. Ich habe auch gelernt, mich in einen Menschen zu verwandeln, von einem weisen Taoisten am Paektu-Berg. Ich will mich in einen Mann in Trauer verwandeln, was wollt Ihr denn werden?« — »Ich will ein junger Bursche werden!« — und die beiden verwandelten sich, der Bär in einen hübschen jungen Mann, das Wildschwein in einen alten Mann, der Trauerkleidung angezogen hatte. Dann brachen sie wieder auf.

Es wurde dunkel, die beiden suchten sich ein Dorf, in irgendein Haus gingen sie und baten den Hausherrn, die Nacht dort verbringen zu dürfen, der willigte gern ein. Gut zu essen gab er ihnen noch dazu. Sie stillten ihren Hunger, waren dann ziemlich müde und wollten schlafen gehen, als sie draußen jemanden weinen hörten. >Seltsam ist das<, dachten sie, sahen den Hausherrn an und fragten ihn, was denn das sein könne. Der antwortete ihnen: »Ach, im Berg hinter dem Dorf gibt es eine große Höhle, dort lebt ein riesiger Krebs, wer weiß, wie alt der schon ist. Der hat immer schlimme Dinge mit uns getrieben. Weil er uns Menschen hier immer wieder Schaden zugefügt hat, haben die Leute in der Nachbarschaft sich entschlossen, ihm jedes Jahr freiwillig einen Menschen als Opfer vor die Höhle zu legen. Jedes Jahr kommt dieser Mensch aus einem anderen Haus, und heute ist das Haus an der Reihe, aus dem ihr es so heulen hört. Vielleicht will man die kleine Tochter hinbringen«, so erklärte er ihnen alles ganz genau.

Voller Mitleid war das Wildschwein, als es das gehört hatte, voller Mitleid mit dem kleinen Mädchen. >Und der Krebs, das muß ein ganz widerlicher Kerl sein<, dachte es und sah den Bären an. »Wenn man so was hört, muß man doch einschreiten. Wir wollen den Kerl von Krebs schon zur Strecke bringen, damit ein so schlimmer Brauch aufhört. Ich gehe mal hin, will mich ein wenig umhören«, und das Wildschwein lief ins Haus gegenüber und traf den Hausherrn.

Dessen Gesicht sah ganz verzweifelt aus. Wie sehr mußte er geweint haben, seine Augen waren dick und rot! Das Wildschwein fragte ihn, was denn los sei, und hörte dieselbe Geschichte noch einmal — sie entsprach also der Wahrheit. Das Wildschwein sah den Hausherrn an, suchte ihn zu trösten. »Keine Sorge! Ich versichere Euch, ich werde Eure Tochter zurückbringen, seid nicht mehr traurig!« Beide traten ins Haus ein, suchten die kleine Tochter. Das Wildschwein sah das Mädchen an. »Kind, du brauchst nicht mehr zu weinen, ich werde dir helfen, dich retten. Mach du nur, was ich dir sage. Deine Kleider, die gibst du mir, die werde ich anziehen und dorthin gehen. Und du, du ziehst meine Kleider an und versteckst dich«, und sie tauschten ihre Kleider.

Der nächste Tag brach an, die Leute aus der Nachbarschaft kamen, um die Tochter dieses Hauses abzuholen. Das Wildschwein, wie ein Mädchen aufgeputzt, wurde vor die Höhle gezerrt, dort mußte es niederknien. Eine Zeitlang hockte es da, bis plötzlich aus der Höhle ein eisiger Wind blies und ein ganz widerlicher Krebs, die Vorderbeine voran, auf das Wildschwein zusprang. Das aber riß sich schnell die Mädchenkleider vom Leibe, nahm seine Wildschweingestalt an, mit den messerscharfen Hauern griff es den Krebs an. Der aber bekam es mit der Angst zu tun, zog sich in seine Höhle zurück und versteckte sich dort.

Das Wildschwein sah ein, daß es den Krebs unmöglich fangen und töten konnte, es ging ins Dorf zurück. Am nächsten Tag machten sich Bär und Wildschwein wieder gemeinsam auf den Weg. Sie kamen an einen großen Strom. Weder eine Brücke gab es noch eine Fähre, sie machten sich Gedanken, wie sie wohl auf die andere Seite gelangen könnten.

Kurzerhand verwandelten sie sich in Schildkröten und schwammen hinüber. Etwa den halben Weg hatten sie geschafft, als ihnen vom anderen Ufer eine große Schildkröte entgegenkam. Sie begrüßten einander, fragten: »Wohin des Weges?«, und die große Schildkröte antwortete ihnen: »Ich habe gehört, daß der Krebs dort drüben vom Berg gestern verletzt worden ist. Weil wir gut miteinander stehen, konnte ich nicht ruhig bleiben. Ich bin auf dem Weg, ihn zu untersuchen und, wenn es nötig ist, eine heilkräftige Salbe auf seine Wunden zu streichen.«

Die beiden anderen Schildkröten zeigten sich bestürzt. »Ach, ist das so? Ihr habt wirklich etwas Gutes vor. Wir kennen den Krebs auch ganz gut. Was haltet Ihr davon, wenn wir mitgehen und uns auch nach seinem Befinden erkundigen?« — »Fein, wenn ihr nichts anderes vorhabt, kommt doch einfach mit!« Und so kam es auch, zu dritt langten sie an der Höhle an.

Die Schildkröte mit der heilsamen Salbe trat in die Höhle ein, die beiden anderen warteten draußen. Der Krebs, der war wirklich schwer verletzt. Doch als er hörte, daß draußen noch zwei Freunde warteten, die ebenfalls einen Krankenbesuch abstatten wollten, hatte er nichts dagegen, die zwei sollten ruhig hereinkommen. Die Schildkröte lief nach draußen und holte die beiden. Kaum waren sie in der Höhle, verwandelten sie sich in Bär und Wildschwein, bissen den Krebs in Stücke und töteten ihn.

Wie gut war das für das Dorf! Wirklich, sie hatten ein gutes Werk getan. Bär und Wildschwein verwandelten sich wieder in den jungen Mann und den alten Trauernden, suchten das Dorf auf und berichteten, daß sie den Krebs vernichtet hatten. Alle waren glücklich, das ganze Dorf lief in die Höhle. Dort konnten sie sich überzeugen, daß der Krebs tatsächlich tot war. Die Leute aus dem Dorf richteten ein großes Fest aus, sie überlegten, wie sie den beiden ihre Wohltat danken könnten.

Das Fest begann, alle waren dem jungen Mann und dem Alten in Trauerkleidung unendlich dankbar und fragten, ob sie einen Wunsch hätten. Die beiden erwiderten: »Wir wollen nichts außer zwei Kühen, die ihr für uns schlachten sollt.« Auf der Stelle wurde der Metzger herbeigeholt, und er schlachtete zwei Kühe. Der junge Mann und der Trauernde aber verwandelten sich zurück in ihre ursprüngliche Gestalt, fraßen als Bär und Wildschwein das Fleisch alles auf, dann verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen. Wie verblüfft waren die Dorfleute, sie wußten nicht, war das alles Wirklichkeit oder nur ein Traum.