Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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6. Der gelehrte Herr Nam 




Der gelehrte Herr Nam hatte sieben Söhne. Doch das wurde für ihn ein Grund zur Sorge. Als die Söhne in ein Alter kamen, das zum Lesen- und Schreibenlernen gerade richtig war, gab es keine Bücher, nicht einmal Pinsel und Tusche. Das war der Grund seiner Sorge.

Viele Dinge überlegte er hin und her, um am Ende seiner Gedanken dann seine Frau herbeizurufen; ihr sagte er, er müsse wohl aufs Festland hinüberfahren, um Bücher, Pinsel und Tusche zu besorgen. Ohne noch etwas zu sagen, traf die Frau die nötigen Vorbereitungen und verabschiedete ihren Mann.

Als der Tag, für den der Mann seine Rückkehr versprochen hatte, verstrichen war und es auch keine Nachricht über ihn, geschweige denn von ihm gab, schaute die Frau wie jeden Tag vom Strand aus hinüber zum Horizont, wo ihr Mann verschwunden war. So wartete sie auf ihren Mann und dachte, wenn es nicht heute ist, dann ist es morgen. Aber ihr Mann kam nicht zurück, der Horizont schien ihn verschlungen zu haben, der Schmerz der Frau wurde groß und größer, und so vergingen drei Jahre.

Die Frau war nahe daran, verrückt zu werden, den Söhnen erschien das Verhalten der Mutter eigenartig. Nicht nur daß sie am Morgen das Haus verließ und erst spät am Abend zurückkam, nein, wenn sie nach Hause zurückgekommen war, hatte sie sich angewöhnt, wie geistesabwesend nur dazusitzen. Sie beratschlagten, und schließlich entschieden sie, der Mutter einmal zu folgen. Nachdem die Mutter am Morgen das Haus verlassen hatte, lief sie den ganzen Tag, bis die Sonne unterging — ihre Strohschuhe waren ganz durchgelaufen am Strand umher und schrie laut: »Gelehrter Herr Nam! Seid Ihr noch am Leben? Schreibt mir bitte einen Brief! Solltet Ihr aber tot sein, dann, bitte, bitte, erscheint mir im Traum!«

Kaum war spät am Abend die Mutter nach Hause zurückgekommen, bedrängten ihre Söhne sie und fragten, wie denn das mit ihrem Vater gekommen sei. Zuerst versuchte die ermüdete Mutter, ihnen die Wahrheit zu verbergen, doch dann erzählte sie alles. »Wenn er wirklich verstorben sein sollte, möge doch wenigstens das, was von ihm übrig ist, an Land gespült werden, darum habe ich den Drachenkönig gebeten, doch ...« Die Mutter war jetzt so müde, ihr fehlte sogar die Kraft zum Weinen. Die Söhne hörten schweigend ihre Erzählung, dann trösteten sie die Mutter: »Mutter! Mutter! Wollt Ihr den Vater suchen gehen? Wir werden ein Schiff für Euch bauen.« So weit hatte die Mutter nicht vorausdenken können, sie hörte zu, was die Söhne ihr sagten, und meinte dann, so könne man es machen.

Am darauffolgenden Tag begannen die Söhne, am Aye-Berg, einem Geisterberg, fleißig Bäume zu fällen. Als fast alles Holz vorbereitet war, wollte die Mutter einen Zimmermann um Hilfe angehen, aber die Söhne bestanden darauf, alles allein zu machen.

Einige Tage vergingen, und das Schiff war fertig. Doch als sie dann tatsächlich das Schiff vom Stapel laufen lassen wollten, wußten sie nicht, wie denn das Schiff vorwärts ins Meer kommen könnte. Die Brüder waren ratlos, sie wußten nicht, wo denn ein Fehler entstanden sein könnte, als irgendwoher ein Adler herbeigeflogen kam, hoch in der Luft über dem Schiff rund und rund seine Kreise zog, der krächzte und krächzte so, als ob er etwas zu sagen habe. Und da erst bemerkten sie, daß das Steuerruder nicht festgemacht war.

Kaum war das Steuerruder festgemacht, stach das Schiff, kaum zu glauben, schnell wie ein Pfeil in See, und in nicht mehr als drei Tagen erreichte es das Festland. Die Mutter — sie war vom Schiff gestiegen — machte es an einem sicheren Platz fest und begann aufs Geratewohl einen Weg entlangzugehen.

Da, als sie gerade an einem Hirsefeld vorbeiging, verscheuchte ein junges Mädchen die Vögel und summte dieses Lied:


»Huyói, huyói

Vogel, Vogel, tu nicht so klug!

Der gelehrte Herr Nam, 

der tat auch so klug, 

und doch ist er hereingefallen, 

verführt hat ihn Noiljódae.

Ihre Tür ist nur 

eine Matte aus Stroh!

Um ihren Kochtopf, 

da streicht er herum, 

da soll er leben.«


Die Frau des gelehrten Herrn Nam bekam seltsame Gedanken, und so fragte sie das Mädchen, was das denn für ein Lied sei.

»Wirklich, liebe Frau, Ihr seid komisch. Das ist nur ein Lied, mit dem man die Vögel verjagt.« — »Also, ich geb dir eine hübsche Haarschleife und ein paar schöne Murmeln, aber, bitte, laß mich das Lied noch einmal hören.«

Weil es die Murmeln haben wollte, sang das Mädchen das Lied noch einmal:


»Huyói, huyói

Vogel, Vogel, tu nicht so klug!

Der gelehrte Herr Nam, 

der tat auch so klug, 

und doch ist er hereingefallen, 

verführt hat ihn Noiljódae.

Ihre Tür ist nur 

eine Matte aus Stroh!

Um ihren Kochtopf,

da streicht er herum, 

da soll er leben.«


Die Frau gab dem Mädchen, wie versprochen, die Haarschleife und die Murmeln, dann fragte sie, ob das Mädchen denn wisse, wo der gelehrte Herr Nam lebte. Das Mädchen hatte noch gelächelt, als es die Haarschleife und die Murmeln bekommen hatte, doch jetzt sagte es mit eigenartigem Gesichtsausdruck: »Liebe Frau! Warum sucht Ihr so einen Kerl? Der gelehrte Herr Nam lebt dort drüben hinter dem Paß, sagt man.« 

Die Frau folgte dem Weg, den ihr das Mädchen gezeigt hatte. 

Das Haus war leicht zu finden. Nach der langen Zeit, die verstrichen war, erkannte der gelehrte Herr Nam, so war es nun einmal, seine Frau nicht. Es hatte den Anschein — er hatte das Gesicht seiner Frau völlig vergessen!

Die Frau hatte etwas anderes im Sinn. »Kann ich mich nicht ein wenig ausruhen, bevor ich weitergehe?« Der gelehrte Herr Nam verzog das Gesicht. »Unsere Frau wird schimpfen!« sagte er. »Ach du liebes bißchen! Kann denn jemand, der ausgeht, sein Haus mitnehmen?« tadelte sie ihn freundlich. »Das gerade nicht, aber ...«, er mußte ihr zustimmen, da es wohl nicht anders ging.

Die Frau nahm draußen neben der Tür Platz. Wenig später kam Noiljódae, die derzeitige Frau des gelehrten Herrn Nam, zurück; in die Falten ihres Rockes hatte sie Reisspreu hineingepackt. Sie ging nicht hinein, nein; als sie die Frau draußen vor der Tür sitzen sah, fing sie sogleich an zu schimpfen: »Ich schufte mich fast tot, schleppe sogar Spreu herbei, nur damit ich dich am Leben erhalten kann, soviel Mühe mach ich mir — und du, du läßt dieses Weibsstück bis in unser Haus hinein. So entschuldige dich!«

Der gelehrte Herr Nam war völlig fertig, aber er wagte zu bemerken : »Heißt das denn schon Haus, wenn jemand sich davor ein wenig ausruhen und dann weitergehen will? Kann man das denn verweigern?«

Noiljódae verschwand mit ärgerlichem Gesicht in der Küche, wusch die Spreu mit Wasser und brachte das dem gelehrten Herrn Nam. Und der trank es, gluck, gluck, in einem Zug aus. Als die eigentliche Frau des gelehrten Herrn Nam, die ganz wie ein Gast sitzen geblieben war, das mit ansah, tat ihr das Herz weh. Sie überlegte hin und her und kam zu dem Schluß, zu Noiljódae zu sagen, sie habe Hunger, und sie zu bitten, die Küche ein wenig benutzen zu dürfen. Und das, weil sie daran dachte, Reis zu kochen und den dann dem gelehrten Herrn Nam anzubieten.

Da stimmte Noiljódae ausnahmsweise einmal gleich zu.

Die Frau ging in die Küche, und da war in einem Topf Reis ein paar Finger hoch angebrannt und in einem anderen Topf genauso viel Spreu. Die Frau wusch die beiden Töpfe achtmal aus, vielleicht noch häufiger, machte Reis und ein wenig Beikost fertig und stellte das auf den kleinen Tisch. Den brachte sie dem gelehrten Herrn Nam. »Es geht ja nicht, daß ich alleine esse. Bitte, speisen Sie am Tisch, den ich vorbereitet habe!« — »Das scheint ja der Tisch zu sein, den ich vorhin benutzt habe. Ja — als ich mit meinem früheren Weib zusammengelebt habe, da hab ich immer so einen Tisch bekommen ...«, das murmelte er vor sich hin. Die Frau versuchte, seine Gedanken zu erraten. »Ist das wahr?« Sie faßte einen Entschluß.

Der gelehrte Herr Nam nickte mit dem Kopf und meinte voll Bitterkeit, so sei das. Da standen der Frau die Tränen in den Augen. »Liebster! Erkennst du mich noch immer nicht? Mich, deine eigentliche Frau?« — »Liebste! Bist du das wirklich? Irgendwie ist mir dein Gesicht bekannt vorgekommen. Bist du wirklich bis hierher gekommen? Wie sehr mußt du gelitten haben!« Das sagte der gelehrte Herr Nam, gar nicht wie ein Mann, mit weinender Stimme. Bis jetzt war Noiljódae still geblieben, doch dann: »Daß ich Euch, ältere Schwester, von der ich nur gehört habe, nun auch treffen kann! Wirklich, ich bin ganz glücklich darüber«, sagte sie und machte dabei ein ehrlich erfreutes Gesicht.

Die Frau zog ihrem Mann neue Kleider an und setzte ihm den Hut auf. Es schien, als ob da ein ganz anderer Gelehrter zum Vorschein kam als der, der er noch kurz zuvor war. Jetzt gab es nur einen Gedanken — nach Hause zurückkehren. Noiljódae bat, als Dienerin arbeiten zu dürfen, sie wollte unbedingt mitgehen, durch nichts war sie davon abzubringen, und so kam es dazu, daß endlich alle drei aufbrachen.

Sie hatten noch nicht die Küste erreicht, wo das Schiff festgemacht war. Als Noiljódae sah, daß es neben dem Weg einen großen Brunnen gab, schlug sie vor, da das Wetter doch heiß sei, erst ein Bad zu nehmen und dann weiterzugehen. Die Frau, völlig arglos, war einverstanden, doch Noiljódae wollte gar nicht baden. Sie stieß heftig in den Rücken der Frau und warf sie so mitten in den Brunnen hinein. Ein wenig entfernt hatte der gelehrte Herr Nam gewartet, zu ihm eilte sie und erzählte: »Noiljódae ist kopfüber in den Brunnen gefallen.« — »Gut hast du das gemacht. Das Weibsstück hat mich ganz schön fertiggemacht.« Denn er dachte, die Frau vor seinen Augen, die wäre seine eigentliche Frau — der gelehrte Herr Nam hatte keine Ahnung davon, daß Noiljódae die Kleider vertauscht hatte. 

In der Heimat, da waren die Söhne zum Strand herausgekommen. »Vater ist zurückgekehrt!« schrien sie voller Freude durcheinander. Doch bald fanden sie heraus, daß sie, was ihre Mutter anging, einige Zweifel hatten. So stritten sie miteinander: »Es ist Mutter!« — »Nein, sie ist es nicht!«, indes sie nach Hause zurückgingen. Unter ihnen war es besonders Noktisaeng, der jüngste der Brüder, der stur darauf beharrte: »Auf keinen Fall, sie ist nicht unsere Mutter!«

Noktisaengs Worte sollten sich bewahrheiten. Als Vorwand gab Noiljódae an, sie habe, als sie unterwegs gewesen sei, den Vater zu suchen, Wind und Regen, kalten Tau ertragen müssen, und deshalb habe sie überhaupt keine Kraft, jetzt auch noch Reis zu kochen. Doch dem Willen der Brüder konnte sie nichts entgegensetzen, und so mußte sie sich doch ans Kochen machen. Ja, und der Eßtisch, der geriet ihr völlig daneben. Was dem älteren Bruder gehörte, bekam der dritte, was dem jüngsten gehörte, bekam der älteste. Von Mahlzeit zu Mahlzeit, von Tag zu Tag geriet alles nur noch mehr durcheinander. Auch die anderen Brüder, die ganz verstört waren, sahen ein, daß das, was der jüngste Bruder gesagt hatte, nicht mehr anzuzweifeln war. Sie fingen an zu flüstern: »Es ist wahr, sie ist nicht unsere Mutter!« Noiljódae bekam schließlich mit, was die Brüder so flüsterten. Schwer überlegte sie, hin und her, und was dabei herauskam, war der Gedanke, sich die Brüder auf jeden Fall vom Halse zu schaffen.

Noiljódae legte sich wie krank hin. »Oh! Oh!« begann sie zu stöhnen wie jemand, der schwer leidet. Der gelehrte Herr Nam machte sich Sorgen. Als er fragte, ob er nach Medizin schicken solle, da stöhnte Noiljódae absichtlich ganz besonders mitleiderregend: »Es wird wohl kaum eine Medizin geben, die meine Krankheit heilen kann.« Dem gelehrten Herrn Nam, der treuherzig weiterfragte: »Was soll denn das heißen? «, sagte sie, ganz so, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre: »Wenn Ihr diesen und diesen Weg geht, wird da ein Mönch sitzen mit einem Sack über dem Kopf. Wenn Ihr zu dem kommt, bittet ihn, Euch die Zukunft vorauszusagen!« — »Das, das ist eine leichte Aufgabe!« Flugs machte sich der gelehrte Herr Nam auf den Weg. Kaum war er aus dem Haus, als schon Noiljódae auf einer Abkürzung dorthin rannte, sich einen Sack über den Kopf zog und darauf wartete, daß der gelehrte Herr Nam käme.

Wenig später tauchte der gelehrte Herr Nam auf und erzählte, daß seine Frau krank darniederliege und er selbst gekommen sei, sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Der Mönch murmelte etwas, als ob er ein Orakel befragte, dann sagte er mit stockender Stimme: »Wenn sie die Galle der sieben Söhne herausschneidet und ißt, dann könnte ihr Zustand sich bessern ...«

Gleich nach seiner Rückkehr ließ der gelehrte Herr Nam Noiljódae, die ja so überaus leidend war, das Ergebnis des Orakels wissen. »Oh, wenn ich sterben soll, muß ich wohl sterben, was kann man da machen? Liebster, du meinst wohl, alles ist in Ordnung, wenn ich allein sterbe?«

Der gelehrte Herr Nam war sehr mitfühlend, er hatte wirklich Mitleid mit seiner Frau. Ob es keine andere Möglichkeit gebe, fragte der gelehrte Herr Nam voller Sorge, und zu seiner Freude bat Noiljódae, noch einmal das Orakel zu befragen.

Wieder suchte der gelehrte Herr Nam den Ort auf, den Noiljódae ihm genannt hatte, und vom gleichen Wahrsager wie beim letzten Mal kam er mit dem gleichen Ergebnis zurück. Wieder hieß es, die Galle seiner Söhne sei die Medizin. Auch diesmal hatte Noiljódae die Abkürzung genommen.

Wie es nun einmal stand, bat er, noch einmal das Orakel zu befragen. Doch auch beim dritten Mal war das Ergebnis genau das gleiche. Wie vorher schon, konnte Noiljódae nichts anderes machen, als die gleiche Abkürzung zu benutzen, und wieder wurde bestätigt, daß die Galle der Söhne als Medizin zu benutzen sei. Wie es nun einmal stand — eine so sichere Sache durfte man kaum unterlassen: »Wenn meine Krankheit nur besser geworden ist, werde ich zwei Söhne auf einmal zur Welt bringen und sie sorgfältig großziehen.«

Der gelehrte Herr Nam fing nun zu guter Letzt doch an, sein Messer zu wetzen. Die Großmutter aus dem Nachbarhaus, die gerade jetzt dazukam, weil sie glühende Kohlen brauchte, sah das mit an und fragte: »Wozu wetzt Ihr denn Euer Messer?« Sie hörte sich die Geschichte von Anfang bis Ende an, dann sagte die Großmutter: »Die Galle eines Menschen, das ist schon eine wunderbare Medizin!« und verabschiedete sich. Kaum hatte sie das Haus des gelehrten Herrn Nam verlassen, da traf sie die sieben Brüder. »Jetzt seid ihr ja noch alle am Leben. Man sagt, eurer Mutter wird es erst besser gehen, wenn sie eure Galle herausholt und verspeist.« Sie schnalzte mit der Zunge und verschwand.

Die Brüder waren völlig durcheinander. Aber der letztgeborene Noktisaeng schien es leichtzunehmen. »Ich gehe als erster rein, mal sehen, wie die Dinge stehen.« Als Noktisaeng ins Haus trat, hatte sich noch nichts getan, der Vater war noch immer dabei, Messer zu wetzen. »Vater, wozu wetzt Ihr denn die Messer?« Der Jüngste tat so, als ob er gar nichts wüßte.

»Um zu erfahren, wie denn Mutters Krankheit geheilt werden kann, habe ich das Orakel befragt, und dreimal war das Ergebnis das gleiche, ganz genau — es hieß, sie muß eure Galle essen, wenn sie gesund werden will« — und weiter wetzte er die Messer. »Vater, gebt mir das Messer da. Wie könnten wir denn durch die Hand unseres Vaters sterben? Ich werde den älteren Brüdern die Galle herausschneiden, und wenn das eine gute Wirkung zeigt, ist es dann nicht genug, wenn Ihr mich allein tötet?« Der gelehrte Herr Nam, der sich über die Worte Noktisaengs wunderte, meinte auch, man könne das so machen.

Noktisaeng, der das Messer entgegengenommen hatte, brach in Tränen aus. Gemeinsam mit seinen Brüdern bestieg er den Geisterberg. Da tauchte ein weißhaariger Alter auf, und der fragte sie, was sie denn bekümmere. Die Brüder erzählten ihm von Anfang bis Ende die ganze Geschichte. »Ich weiß, was da zu machen ist. Wenn ihr hier geradeaus weiter hinaufgeht, werdet ihr auf ein Wildschwein treffen, das sieben Junge bei sich hat. Das ist eine Wiedergeburt eurer Mutter. Eines von den Jungen laßt am Leben, sechs müßt ihr töten und ihnen die Galle herausschneiden.«

Wie der weißhaarige Alte gesagt hatte — tatsächlich konnten sie ein Wildschwein, das sieben Junge anführte, finden. Also töteten sie sechs, brieten das Fleisch auf einem Feuer und verzehrten es, die Gallen nahmen sie aber mit nach Hause. Die Brüder versteckten sich draußen vor der Tür, Noktisaeng ging allein ins Zimmer hinein und überreichte Noiljódae die Schweinegalle mit den Worten: »Hier sind die Gallen meiner Brüder!«

Noiljódae, mit betroffenem Gesicht, sagte: »Oh, wie soll ich das denn vor deinen Augen essen?« Noktisaeng sagte beim Hinausgehen mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, er weiß alles: »Du mußt alles essen in der Zeit, bis ich zurückkomme!« Kaum war Noktisaeng aus dem Zimmer, schon bohrte er ein Loch in das Papierfenster und beobachtete heimlich, was Noiljódae drinnen anstellte. So wie er es sich vorgestellt hatte, führte Noiljódae die Gallen an ihre Lippen, berührte sie, verschmierte sich das Gesicht mit Blut — und sofort versteckte sie alles unter ihrer Matratze.

Wenig später betrat der jüngste Bruder wieder das Zimmer und gab sich den Anschein, als ob er überhaupt nichts wisse. »Mutter, jetzt am Ende werde ich Euch beim Bettenmachen helfen, dann werde ich Vater rufen, er soll auch meine Galle herausschneiden.« Noiljódae war zu Tode erschrocken. »Ich bin schwer krank, wie soll ich da die Kraft haben, mich von der Stelle zu rühren?« — »Ja, dann werde ich Euch nur die Läuse vom Kopf fangen.« — »Wenn man schwer krank ist, soll man nicht einmal Läuse fangen.« Noktisaeng konnte sich nicht mehr länger zurückhalten, er krallte sich in Noiljódaes Haarsträhnen fest, zog sie so in den Hof hinunter und rief seine Brüder.

Daß dabei die Schweinegalle unter der Matratze zum Vorschein kam, ist wohl keine Frage. Voll Furcht ging Noiljódae geradewegs zum Abort und erhängte sich dort, und wenig später erhängte sich auch der Vater am Tor zum Hof. Die Söhne, tränenüberströmt, heulten und schrien: »Die Seele unseres Vaters wird nun mit einer Ahnentafel vor dem Tor leben müssen, und unsere zweite Mutter wird als Abortgeist weiterleben. Wenn der Gott unsere bedauernswerte richtige Mutter wenigstens in seiner Küche mit dem Anrichten der Opferspeisen betraut, dann wollen wir sieben Brüder zum Jadekaiser gehen und darum bitten, sieben Sterne werden zu dürfen.« — Man sagt, die sieben Sterne des Großen Bären seien eben diese sieben Brüder, die zum Himmel aufgestiegen sind.