Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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88. Ein Strohseil, nur drei Ellen lang




In alten Tagen lebte in einem einsamen Dorf in den Bergen eine Mutter mit ihrem Sohn. Die Mutter ging Tag für Tag ins Nachbarhaus, wo sie als Tagelöhnerin Getreide mahlte; mit dem Geld, das sie dafür bekam, konnte sie immer gerade einen Tag herumkommen. Ihr Sohn, der war ein großer Faulenzer; obwohl schon älter als zwanzig Jahre, spielte er immer nur herum. Eines Tages kam die Mutter schweißgebadet von der Arbeit auf dem Feld zurück — der Sohn lag da und schlief. Die Mutter wurde zornig. »Du Kerl, andere, die ein Vielfaches reicher sind als wir, gehen auch aufs Feld und tun ihre Arbeit. Bist du was Besseres, daß du dich immer nur hinrekelst, immer nur schläfst? Willst du vielleicht dein ganzes Leben der Mutter auf der Tasche liegen, deinen Reis von mir erbetteln?«

Es war das erste Mal, daß die Mutter ihn so ausschimpfte, betreten hörte der Sohn sich die Schelte an. »Meinst du, ich bin zu faul zum Arbeiten? Wenn ich nur eine Arbeit hätte, ich wollte sie schon jeden Tag tun«, murmelte er. Wie freute sich die Mutter, gleich lief sie los, bettelte in jedem Haus des Dorfes; »Mein Sohn Tudóji hat gesagt, er will arbeiten, um seine alte Mutter ein wenig zu unterstützen. Wer gibt mir eine Hacke für ihn und ein Scheffel Hirse?«

Die Dorfleute hatten Mitleid, sie gaben ihr eine Hacke und auch die Hirse. Sogar drei Scheffel Hirse konnte sie zusammenbetteln. Sie war froh darum, Hacke und Hirse brachte sie ihrem Sohn. »Von heute an gehst du auf den Hügel hinter dem Dorf, legst dort einen Acker an und pflanzst die Hirse. In Zukunft werden wir dann auch ein wenig besser leben können. Als ich den Leuten im Dorf erzählt habe, daß du arbeiten willst, haben sie mir das alles geschenkt.«

Tudóji nahm Hacke und Hirse, stieg auf den Hügel. Die Freude der Mutter war grenzenlos. Ihr Sohn kletterte wirklich auf den Hügel und wollte dort Hirse pflanzen! Wohlgelaunt ging sie selbst auch an die Arbeit. Was sie dann aber mit ansehen mußte, raubte ihr den Atem. Der Sohn, von dem sie geglaubt hatte, daß er auf dem Hügel Hirse pflanzte, dieser Sohn dachte nicht im geringsten daran zu arbeiten, in der Stube lag er und machte ein Nickerchen.

Außer sich war die Mutter, schrie ihn an. Tudóji richtete sich langsam auf. »Ei, wirklich, Mutter, ich habe längst alles gesät, bin zurückgekommen und eingeschlafen, warum denn nicht?« antwortete er ruhig. Die Mutter lief hinaus, um nachzusehen. Es verschlug ihr die Sprache — der Sohn hatte ein großes Loch gegraben, die drei Scheffel Hirse hineingeschüttet und alles wieder mit Erde zugedeckt, dann war er nach Hause gegangen. Bestürzt war die Mutter, schwer atmete sie, dann machte sie sich daran, die Hirsesamen in gleichmäßigen Abständen einzeln in die Erde zu legen. Erst als die Sonne unterging, war sie damit fertig, schluchzend lief sie nach Hause.

Als die Mutter am nächsten Morgen wieder aufs Feld ging, traf sie einen alten Mann aus dem Nachbardorf. »Gut, daß ich Euch treffe«, sagte der, »bei uns fehlt es in der letzten Zeit an Arbeitern. Könnt Ihr nicht für mich Strohseile drehen?« bat er und gab ihr ein Bündel Stroh. Gleich lief die Mutter zu ihrem Sohn, lehrte ihn, wie man aus Stroh Seile dreht, dann ging sie aufs Feld hinaus.

Am Abend hatte sie wieder Grund, zornig zu werden — sie hatte gehofft, ihr Sohn würde aus dem Stroh ganz wunderschöne Seile drehen, der aber hatte mit knapper Not gerade ein drei Ellen langes Seil gedreht und war eingeschlafen. »Du Schweinekerl! Mach, daß du verschwindest mitsamt deinem Seil!« herrschte sie ihn an. Tudóji stand auf. »Wenn du sagst, ich soll verschwinden, muß ich wohl gehen«, nahm sein drei Ellen langes Seil und ging aus dem Haus.

Tudóji wanderte die ganze Nacht durch die Berge, am nächsten Morgen erst erreichte er das nächste Dorf. Niemanden kannte er dort, so konnte er auch niemanden um eine Schale Reis bitten; mit hungrigem Bauch lief er den ganzen Tag weiter, bis er unterwegs einen Hausierer traf, der eine ganze Last Tontöpfe mit sich trug. Das Seil, mit dem er die Töpfe zusammengebunden hatte, war an einer Stelle fast gerissen, mit Mühe und Not konnte der Topfhändler seine Last mit der Hand zusammenhalten. Er sah Tudóji, sah das Seil in dessen Hand, und sein Gesicht hellte sich auf. »Junger Herr, ich geb Euch einen Wassertopf, laßt mir Euer Seil dafür!« Gleich streckte Tudóji ihm sein Seil hin, nahm einen Wassertopf dafür entgegen.

Er kam ins nächste Dorf, die Kinder schrien herum: »Ein Bettler ist gekommen!« Er kümmerte sich kein bißchen darum, er suchte nur was zu essen, und als er weiter ins Dorf hineinkam, traf er auf ein Mädchen, das kam aus einem Haus, dessen Dach die Form eines Walfischs hatte. Das Mädchen war auf dem Weg zum Brunnen, um Wasser zu holen; Tudóji fiel ihr auf, er war ein Fremder hier, lange musterte sie ihn. Da machte sie eine ungeschickte Bewegung — ihr Wassertopf fiel ihr vom Kopf und zersprang. Endlich kam sie zur Besinnung, mit bekümmertem Gesicht bat sie Tudóji, ihr doch seinen Wassertopf zu überlassen. »Bei uns ist die Hausfrau gerade krank, eine Schamanin ist gekommen, um sie zu heilen. Um möglichst günstige Wirkung zu erzielen, braucht sie klares Wasser, das sollte ich holen. Und jetzt ist mir der Topf in tausend Stücke zersprungen. Bitte, gebt mir Euren Topf, ich will Euch dafür Reiskuchen geben!« Als Tudóji von Reiskuchen hörte, gab es nicht viel zu überlegen, gleich gab er dem Mädchen seinen Wassertopf. An den Reiskuchen, die er dafür bekam, aß er sich erst mal satt, was übrigblieb, packte er ein und setzte seine Wanderschaft fort.

Er kam zum Fuß eines unheimlichen Berges. Dort begegnete er drei Männern, die eine schwere Last trugen. Sie sprachen miteinander: »Was muß die Alte ausgerechnet vor unserem Haus hinfallen und sterben?« — »Du, für jemanden, der keine Kinder hat, ist das doch ganz gleich, wo er stirbt. Du bist ja auch noch Junggeselle. Stell dir mal vor, du stirbst auf der Stelle, dann bist du doch genauso arm dran wie die Alte. Beeil dich ein bißchen, verdien Geld, und such dir schnell eine Frau!« — »Wozu braucht man Kinder, Geld muß man haben, sonst geht es einem wie der Alten da.« Als Tudóji sie so reden hörte, mußte er an seine Mutter denken. »He! Wer ist denn die alte Frau?« Den drei Männern war es langweilig, sie waren froh, jemanden zu treffen, stellten ihre Last ab. »Was sagst du? Das ist doch deine Großmutter!« Tudóji dachte sich: >Kann ja sein, daß meine Großmutter hier in der Gegend gelebt hat und gestorben ist<, und er machte den drei Männern ein Angebot. »Gebt mir mal die Großmutter, ich will euch meine Reiskuchen dafür geben!«

Die drei waren es zufrieden, eilig gaben sie ihm die Kraxe, auf die der Leichnam gebunden war, und verschwanden mit den Reiskuchen. Tudóji nahm den Leichnam herunter, putzte ihn auf wie einen lebenden Menschen. Dann ging er ins nächste Dorf und stellte den Leichnam an einen Weidenbaum neben dem Brunnen.

Gerade kam ein Mädchen und wollte Wasser holen, es sah die Alte da stehen und fragte: »Großmütterchen, habt Ihr Hunger? Dann geht doch in unser Haus, dort gibt es ein Fest, Ihr könnt Reiskuchen essen!« und stieß sie mit dem Finger an. Der Leichnam fiel in den Brunnen. Das Mädchen war völlig durcheinander, wußte nicht, was es nun anstellen sollte, es zitterte. »So was, dieGroßmutter in den Brunnen zu stoßen!« — rasch war Tudóji herzugetreten. »Junger Herr, erzählt es niemandem, ich will Euch auch alles geben, was Ihr wünscht!« — ganz ängstlich sah sie ihn an.

»Ja, dann mußt du mit mir kommen und meine Frau werden. Wenn du das nicht willst, muß ich dich anzeigen«, und er sah das Mädchen fest an. »Laßt uns schnell flüchten, ich will mein ganzes Leben für Euch dasein!«

Das Mädchen faßte Tudóji an der Hand, die ganze Nacht über liefen sie. Am Morgen rasteten sie auf einem Pfad in den Bergen. Ein Reisender kam vorbei mit einem Pferd, das voll beladen war. Als der das Mädchen gewahr wurde, hielt er sein Pferd an. »He, Ihr, junger Mann! Wer ist denn das Mädchen?« — »Das ist meine Frau.« Der Reisende setzte sich neben Tudóji. »Junger Mann, wollen wir ein Spielchen machen? Wir wollen uns Rätsel aufgeben; wenn du gewinnst, sollst du den Schatz auf meinem Pferd haben, wenn ich gewinne, gehört das Mädchen mir.«

Tudóji war gleich einverstanden, er machte den Anfang, gab dem anderen ein Rätsel auf: »Für drei Scheffel Hirse drei Ellen Seil, dafür einen Wassertopf, für den Wassertopf Reiskuchen, für die Reiskuchen ein Leichnam, für den Leichnam ein junges Mädchen. Was meint Ihr, was ich für das junge Mädchen bekomme?«, so fragte Tudóji. Der Reisende dachte lange nach, aber er mochte noch so lange nachdenken, er fand keine Lösung. Endlich gab er klein bei: »Ich habe verloren!« und wollte sich einfach davonmachen.

»Es heißt doch immer >Ein Mann — ein Wort<, wie könnt Ihr da einfach so weglaufen?« Auch das Mädchen stellte sich in den Weg. Tudóji faßte den Reisenden an den Hals, schüttelte ihn kräftig. »Wenn ich verloren hätte, Ihr hättet mir ganz gewiß meine Frau abgenommen. Jetzt rück schnell mit deinem Schatz raus!« Dem blieb nichts anderes übrig, er mußte alles hergeben — und er hatte doch nur versuchen wollen, mit einer List das Mädchen zu bekommen. Den Schatz nahm Tudóji auf den Rücken, das Mädchen an die Hand, gemeinsam kehrten sie zur Mutter zurück, noch lange, lange haben sie gelebt.