Es war einmal ein sehr lieber, kleiner Junge. Er hatte schon früh seine Eltern verloren und arbeitete als Dienstbote in einem fremden Hause.
Eines Tages stieg er in den Bergwald, um Brennholz zu suchen. Da stieß er auf ein kleines Bäumchen, dessen Blätter welk herabhingen. Als er es näher betrachtete, sah er, daß Ungeziefer unten am Stamm nagte. »Ihr nichtsnutziges Insektenpack!« Der Junge fing die Schädlinge und tötete sie. Am nächsten Tag brachte er Dünger mit, den er den Wurzeln gab. Das Bäumchen wuchs schnell und wurde ein großer Baum.
Es war in einem Sommer, die Regenzeit hatte eingesetzt, als der kleine Junge in den Bergwald hinaufgegangen war und der Baum zu sprechen anhub: »Lieber Junge, es wird etwas Schreckliches geschehen. Demnächst wird es eine Überschwemmung geben, alles, Berg und Tal, wird zu einer einzigen Wasserwüste. Fälle mich rasch und mache ein Boot aus mir!«
Der Junge folgte den Worten des Baumes und fertigte aus ihm ein Boot. Und siehe, der Regen prasselte beängstigend tagaus tagein hernieder. Berge und Dörfer versanken alle tief im Wasser. Aber der kleine Junge trieb in seinem Boot sicher dahin.
Nach einer langen Zeit hörte er: »Ach, rettet mich bitte! Oh, rettet mich doch!« Es waren Ameisen, die auf dem Wasser schwammen und um Hilfe riefen. Da fragte er den Baum: »Was soll ich tun, Baum? Soll ich sie aus dem Wasser herausholen?«
»Das wäre gut. Errette sie!«
Da der Baum ihm zuredete, nahm der kleine Junge die Ameisen sofort aus dem Wasser und setzte sie auf sein Boot. Eine geraume Weile später hörte er: »Ich sterbe. Oh, helft mir bitte! Ich sterbe.« Dieses Mal baten Mücken, die ins Wasser gefallen waren, ihn flehentlich darum, sie nicht er¬trinken zu lassen. »Was soll ich tun, Baum? Soll ich sie aus dem Wasser herausholen?«
»Das wäre gut. Errette sie!«
Auch der Mücken erbarmte er sich und gab ihnen einen Platz auf seinem Boot, weil der Baum ihn dazu ermuntert hatte. Darauf setzte das Boot seine unbestimmte Fahrt fort. Es dauerte nicht lange, und der kleine Junge vernahm die Rufe eines Menschen: »Hilfe! Zu Hilfe!«
Dieses Mal war ein Kind, auch ein kleiner Junge, in großer Not. Unser Junge aber suchte wieder Rat bei dem Baum.
»Nun, ich weiß nicht recht«, antwortete dieser, verzog sein Gesicht und forderte ihn zu nichts auf.
»Helft mir! Rettet mich!« Mitleiderregend schrie das Kind im Wasser aus voller Kehle.
»Ach, Baum! Was soll ich denn tun?« fragte der Junge. Doch der Baum erwiderte abermals: »Nun, das weiß ich nicht recht.«
»Ich sterbe! Hilfe!« Die Stimme des ertrinkenden Jungen klang nun, da seine Kraft geschwunden war, kläglich und schwach.
»Baum, sage mir, was soll ich nur tun? Kann ich ihn sterben lassen?«
»Lieber Junge, tue so, wie du es für gut und richtig hältst.«
Also zog er schließlich den Jungen aus dem Wasser in sein Boot. Dieses langte endlich bei einer wunderschönen, friedlich daliegenden Insel an. Die Ameisen kletterten in die Berge, und die Mücken flogen in den Wald. Die beiden Jungen aber kamen an ein Haus, in dem ein altes Mütterchen wohnte, das sie aufnahm.
»Oh, ihr seid wirklich hübsche Kinder! Wäre dies auch nicht so, es trifft sich auf jeden Fall sehr gut, denn ich fühle mich einsam, weil ich keine Söhne habe. Sagt, wie heißt ihr denn?« erkundigte sich das Mütterchen, indem sie den Kopf freundlich zur Seite neigte. Aber die Namen der Jungen gefielen ihr nicht. »Sie sind nicht schön. Ab heute nenne ich euch Gold- und Silberknabe.« Das Mütterchen gab dem Jungen, der das Boot gezimmert hatte, den neuen Namen >Goldknabe< und dem Jungen, der fast ertrunken wäre, >Silberknabe<.
Die Zeit verging, und ehe man sich’s versah, waren Gold- und Silberknabe groß und stark geworden. Wie der Zufall es wollte, hatte das Mütterchen zwei Töchter. Das Gesicht der älteren sah sehr häßlich aus, das der jüngeren jedoch war ebenmäßig und schön geformt. Das Mütterchen wollte sie an Gold- und Silberknabe verheiraten, indessen konnte sie nicht entscheiden, wem sie die Hübsche geben sollte. Sowohl Goldknabe als auch Silberknabe waren vortreffliche Jünglinge.
Doch Silberknabe, der die Gedanken der Mutter erraten hatte, sagte zu ihr: »Es heißt, daß Goldknabe außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt. Er soll einen großen Sack voll Reiskörner ausstreuen und diese in einem halben Tag wieder vollständig auflesen können.« Allein, hinter dieser Rede steckte nur die böse Absicht, Goldknabe in eine peinliche Lage zu bringen und ihn lächerlich zu machen. Silberknabe dachte, daß er dann die ungeteilte Zuneigung des Mütterchens bekäme und es ihm den Vorzug gäbe.
Für Goldknabe war nun guter Rat teuer. »Das ist in der Tat eine erstaunliche Gabe, die du hast. Ach, laß mich doch einmal sehen!« forderte das Mütterchen ihn auf und verstreute sogleich einen ganzen Sack Reis. Aber Goldknabe war natürlich außerstande, all die vielen Körnchen in den Sack einzusammeln. Hilflos und verwirrt stand er da. Doch traute er seinen Augen kaum, als sich von irgendwoher zahllose Ameisen einfanden, in so großen Scharen, daß der Boden durch sie schwarz bedeckt wurde. Darauf ergriff eine jede von ihnen ein Korn und legte es in den Sack zurück. Das Mütterchen war von großer Bewunderung erfüllt.
»Das sind wirklich unglaubliche Fähigkeiten! Aber nun weiß ich noch viel weniger, wem ich die jüngere Tochter zur Frau geben soll. — Richtig! Machen wir es so: Heute abend setze ich eine meiner Töchter in das Ost-, die andere in das Westzimmer. Sucht ihr euch die aus, die euch gefällt.«
Es war Abend geworden. Goldknabe durfte, nachdem sie zuvor das Los hatten entscheiden lassen, als erster die Zimmer betreten. Aber in welchem saß die hübsche Tochter? Da geschah es, daß an das Ohr Goldknabes, der unschlüssig vor den Türen stand, die Mücken geflogen kamen und ihm etwas zuflüsterten: »Wingwing, geht ins Ostzimmer. Geht ins Ostzimmer!« Goldknabe trat dort ein, und vor ihm saß, artig und bescheiden, die hübsche, jüngere Tochter.