Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Die steinalte Feldmaus




Vor langer Zeit ging ein Bauernbursche tief in den Wald hinein und studierte in der Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters fünf Jahre lang mit großem Fleiß, so wie es auch heutzutage Menschen gibt, die mit Bedacht ein ruhiges Kloster aufsuchen, um dort für einige Jahre zu leben und sich zu vervollkommnen.

Nachdem die fünf Jahre vergangen und die Studien beendet waren, nahm der Bursche sein Bündel auf und machte sich frohen Herzens auf den Heimweg. Nach einer solch langen Zeit wieder zurückzukehren, war doch das Allerschönste.

»Mutter!« rief er laut. Er war daheim angelangt, hatte das große Hoftor geöffnet und stand nun vor seiner Familie und vor seinem doppelten Ich. Was war geschehen? Es lebte hier bereits jemand, der genauso aussah, wie er selbst. Dieses doppelte Ich, das bei Vater, Mutter und den anderen Verwandten weilte und ihn anschaute, glich ihm aufs Haar, daß der Bursche beim ersten Anblick heftig erschrak.

»Vater, Mutter! Die fünf Jahre habe ich gelernt, ohne daß mir etwas zugestoßen wäre, und nun bin ich aus dem Kloster zurückgekommen«, sagte er bedrückt und näherte sich seinen Eltern, die verwirrt dreinblickten, mit den Worten: »Erkennt Ihr mich nicht mehr?«

»Was ist denn das für ein dahergelaufener Landstreicher? Kommt in ein fremdes Haus und will die Stelle des Sohnes einnehmen! Gibt es denn noch einen Sohn hier, außer mir, dem einzigen?!« gab ihm der Bursche, der so aussah wie er und der sich an der Seite der Eltern befand, mit aufgebrachter Stimme zur Antwort und stürzte sich auf ihn.

Vater und Mutter starrten die beiden nur entgeistert an und konnten sich nicht von der Stelle rühren.

»Du unverschämter Kerl! Gerade du bist es, der in ein fremdes Haus gedrungen ist und nun so tut, als wäre er der Sohn. Jetzt, da ich — der wirkliche Sohn — zurückgekommen bin, willst du die Eltern schmählich täuschen und mich darüber hinaus sogar vertreiben?« begehrte der Bursche aus dem Kloster auf und stellte sich ihm zornentbrannt und mutig entgegen.

Die Verwandten waren nun in einer schwierigen Lage. Wie sehr sie auch schauten, die beiden Burschen glichen sich wie ein Ei dem anderen: die Gesichter ohnehin, aber auch an den Körpern, und selbst bei den Stimmen gab es nicht den geringsten Unterschied.

»Mein Sohn hat am Vorderarm ein schwarzes Muttermal«, brachte die Mutter, die noch immer fassungslos dastand, als erste mit zitternder Stimme hervor.

»Nun, laßt uns einmal nachsehen.«

Der Bursche, der aus dem Kloster zurückgekehrt war, streifte sein Kleid ab und zeigte seinen rechten Arm vor. Sofort fiel das schwarze Mal ins Auge.

»Schau dir erst meinen Arm an! Nun, was sagst du jetzt!« Auch der Bursche, der im Haus gewesen war, zog sein Kleid aus und hielt seinen Arm hin. Er hatte ebenfalls den schwarzen Fleck.

»Hm, was ist da nur zu tun?« seufzte der Vater zum Himmel emporschauend, nachdem er die Male an den Armen, eines nach dem anderen, sorgsam betrachtet hatte. Selbst derjenige, der gesagt hätte, er wäre der allerklügste Mensch auf der Welt - diese schwierige und rätselhafte Angelegenheit hätte er nicht zu lösen vermocht.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte eines der Familienmitglieder. »Wenn jemand wirklich der Sohn dieses Hauses ist, so kann er auch die Stellen bestimmen, wo jetzt das Hausgerät aufbewahrt wird. Laßt uns sie also in dieser Weise auf die Probe stellen!«

Der Bursche, der im Haus gewesen war, überlegte eine Weile und stimmte dann zu: »Gut, machen wir es so!«

Sofort willigte auch der Bursche aus dem Kloster ein, der ja der wirkliche Sohn war. Aber da hatte er einen großen Fehler begangen. Denn wie sehr es auch sein Haus war, die Plätze, an denen sich das Hausgerät befand, hatten sich während seiner fünfjährigen Abwesenheit geändert. Und wie zu erwarten, bestand der wirkliche Sohn die Probe nicht.

»Du bist mir der Richtige! Wie kannst du es wagen, einen ehrlichen Menschen aus seinem Haus vertreiben zu wollen, nachdem du eine Maske aufgesetzt hast, damit du so aussiehst wie er. Mach, daß du auf der Stelle hinauskommst! Du Bösewicht!«

Nun mußte sich der wahre Sohn gefallen lassen, vom falschen geschlagen und vertrieben zu werden. »O weh, gibt es solch ungerechte und verabscheuungswürdige Dinge in der Welt?« Völlig niedergeschlagen weinte der Vertriebene bittere Tränen und lenkte seine Schritte notgedrungen wieder ins Kloster. Dabei begegnete er einem greisen Mönch, der an einem Bergpfad saß. »Du bist offenbar derjenige, der sich ohnmächtig darin schicken mußte, daß ihn der Falsche aus dem Hause jagte«, sagte der greise Mönch, der ihm eine Weile nur ins Gesicht geschaut hatte, ohne etwas zu fragen.

»Großer Meister, wie könnt Ihr das wissen?« wunderte sich der Bursche und trat, nun wieder bei klarem Verstand, auf den Mönch zu.

»Betrachtet man dein Gesicht, so ist dies sofort darin zu lesen. Fürwahr, du bist in keiner beneidenswerten Lage. Hast du möglicherweise einmal deine Finger- und Fußnägel abgeschnitten und sie achtlos weggeworfen?« erkundigte sich der alte Mönch bei dem Burschen, den er eine Zeitlang voller Mitleid ansah. »Als ich die fünf Jahre im Kloster zubrachte, ging ich an den Bach, der vor diesem fließt, um mich dort zu baden. Danach schnitt ich meine Nägel und warf sie in das Wasser, das sie forttrug.«

»Hm, dann bin ich der Sache auf den Grund gekommen. Es gibt eine vortreffliche Handhabe dagegen. Stecke dir eine Katze unter deine Jacke und setze sie vor den falschen Sohn. Sogleich wird sich alles lösen.«

Der Bursche machte eine tiefe Verbeugung vor dem greisen Mönch und ging, sich eine Katze zu besorgen. Er verbarg sie unter seiner Jacke, kehrte nach Hause zurück und ließ sie vor dem angeblichen Sohn auf den Boden herab. Vater, Mutter und auch die anderen Angehörigen hatten sich eingefunden, um zu verfolgen, was sich vor ihnen abspielte. Kaum bemerkte der falsche Bursche das Tier, da erblaßte er auch schon vor Schreck. Die Katze knurrte, sprang ihn an und biß ihm eine tiefe Wunde in die Gurgel. Das Blut quoll hervor, und der falsche Sohn fiel tot um. Indessen war er nun kein Mensch mehr, sondern eine mehrere hundert Jahre alte Feldmaus. Diese hatte die Fingernägel des Burschen gefressen. Mit den Kräften, die sie dadurch bekam, hatte sie die Gestalt des Sohnes angenommen.