Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Bruder Tiger




Vor langer, langer Zeit war ein junger Holzfäller in den Bergen beim Holzschlagen. Er hatte einen Stoß fertig aufgestapelt und wollte sich eben auf einen Felsblock setzen, um auszuruhen, als ein Tiger mit wild funkelnden Augen auf ihn zugesprungen kam.

>O je! Nirgends kann ich mich verbergen, bestimmt bin ich jetzt verloren!< Dem jungen Burschen wurde schwarz vor Augen. Hätte er gleich einem Vogel Flügel gehabt, wäre er auf- und davongeflogen, aber das war ja unmöglich.

»Zu Hilfe«, rief er laut. Doch da es keinen Menschen außer ihm weit und breit gab, so war das natürlich nutzlos. Fest entschlossen faßte er einen Plan. Bevor der Tiger ihn noch erreicht hatte, lief er auf ihn zu, als ob er einem willkommenen Menschen begegnete. »Das ist aber eine Überraschung, verehrter älterer Bruder! Endlich treffe ich Euch wieder. Welch elendes Leben hattet Ihr hier tief in den Bergen!« Er breitete seine Arme aus, als wolle er dem Tiger um den Hals fallen und warf sich dann vor ihm aus Ehrfurcht zu Boden.

Der Tiger hatte just schrecklichen Hunger. Weil ihn der junge Holzfäller jedoch durch die achtungsvolle Anrede >Älterer Bruder< erfreut hatte, war er ganz verlegen. »Was sagst du? Du meinst wohl, wenn du mich älterer Bruder nennst, daß ich dich dann nicht fresse, wie?« erwiderte er und setzte zum Sprung an. Indessen zeigte der Bursche nicht die Spur von Angst, sondern gab zur Antwort: »Älterer Bruder, was habt Ihr da nur gesagt. Von der Mutter hörte ich, daß mein älterer Bruder in den Bergen lebt. Dies war mir schon lange Zeit bekannt. Doch wußte ich ja nicht, wo Ihr in diesen endlosen Bergen weiltet, wie sollte ich da ...«

»Das stimmt nicht. Du bist ein Mensch und ich ein Tiger. Wie kann ich dein älterer Bruder sein?«

Der Tiger riß sein Maul auf und wollte ihn erneut anspringen. Lachend aber entgegnete der Holzfäller: »Nun ja. Auch die Mutter meinte, daß Ihr so denken würdet. Als Ihr, verehrter älterer Bruder, noch ein Kind wart, da stiegt Ihr in die Berge und kamt nicht mehr zurück. So wußten wir nicht, ob Ihr gestorben wart oder noch lebtet. Doch sah Euch die Mutter im Traum, wie Ihr, in einen Tiger verwandelt, nicht heimkehren konntet und weintet. Drum trug sie mir auf, wenn ich einem Tiger in den Bergen begegnete, solle ich ihm dies erzählen und ihn >Älteren Bruder< heißen. Und ich bin überaus glücklich, daß wir uns heute hier getroffen haben. Aber traurig ist wirklich, daß Ihr ein Tiger geworden seid, und wir nun nicht zusammen nach Hause gehen können.« Bittere Tränen vergoß der Holzfäller.

Dem Tiger schienen diese nicht geheuchelt, als er ihn unauffällig betrachtete. >Die Menschen laufen für gewöhnlich aus Furcht davon, kaum daß sie mich erblicken. Dieser junge Mann hingegen kam fürwahr freudig auf mich zugesprun¬gen! Wie untröstlich wird wohl meine Mutter sein, die mich verloren hat, wie sehr möchte sie mich wiedersehen!<

Der Tiger blinzelte mit den Augen, dachte nach, und auf einmal wurde ihm ganz schwer ums Herz. »Ich bin über die Maßen erfreut, daß du dich mir als mein jüngerer Bruder vorstellst. Da ich aber jetzt ein Tiger bin, können wir nicht miteinander unter einem Dach wohnen, und es ist auch unmöglich, die Mutter wiederzusehen. Darum richte du ihr aus, daß ich gesund und munter bin. Und sorge du auch treu für sie«, sagte er mit sanfter Stimme und brach in Tränen aus.

»Aber nein, älterer Bruder. Dessenungeachtet müßt Ihr die Mutter einmal begrüßen. Kommt mit mir.« Der Bursche ergriff die Vordertatze des Tigers und wollte ihn führen.

»Warum sollte gerade ich die Mutter nicht sehen wollen? Doch wie könnte ich in der Gestalt eines Tigers ins Dorf hinabsteigen? Zweimal im Monat werde ich euch in der Nacht, während die Menschen schlafen, aufsuchen. Jedesmal werde ich ein Wildschwein fangen und es dann für euch auf das Feld hintern Hof legen. Warte der Mutter damit auf und eßt zusammen. Denkt dabei, daß ich da gewesen war.«

Die Worte blieben dem Tiger vor Rührung in der Kehle stecken.

Der Holzfäller verabschiedete sich unter Tränen: »Ja, so wollen wir es halten. Auf Wiedersehen. Ich werde Euch hin und wieder besuchen.«

So gelang es nun dem jungen Holzfäller gerade noch, mit heiler Haut davonzukommen.

Eines Tages jedoch, als der junge Holzfäller morgens aufgestanden war und auf das Feld hinter dem Hof ging, lag da ein Wildschwein.

>Was soll denn das? Ah, der Tiger hat, wie versprochen, an uns gedacht und eines für uns erlegt.<

Hernach brachte der Tiger ohne Unterbrechung jede zweite Woche ein Wildschwein. »Das ist wahrhaftig ein freundlicher Tiger!« hieß es im Kreise der Familie, und alle ließen sich das Fleisch gut schmecken.

Im darauffolgenden Jahr erkrankte die Mutter des Burschen, sie lag darnieder und schied aus der Welt. Seitdem schaffte der Tiger kein Wildschwein mehr herbei. Auch er wußte, daß die Mutter die Augen für immer geschlossen hatte.

Als der Bursche wieder einmal in die Berge zum Holzfällen ging, begegnete er drei Tigerjungen. Furcht hatte er überhaupt keine. Er bemerkte, indem er genau hinsah, daß um ihre Schwänze als Zeichen der Trauer Streifen von Hanftuch gebunden waren. >Das ist mehr als sonderbar!< Und weil er sich gar zu sehr verwunderte, fragte er sie: »Warum habt ihr an euren Schwänzen die Hanftuchstreifen hängen?«

»Unsere Großmutter war auch ein Mensch wie Ihr. Als sie noch lebte, hatte unsere Mutter für sie zweimal im Monat ein Wildschwein gefangen, vor kurzem indes ist die Großmutter verschieden. Aus Gram blieb unsere Mutter in einer Höhle, nahm keine Speise zu sich und weinte nur, bis sie am Ende tot hinsank. Nun sind wir in Trauer um sie. Das ist der Grund für die Streifen.«

Dem jungen Holzfäller drehte sich das Herz im Leibe um. Er bereute, daß er den Tiger angeschwindelt und älteren Bruder genannt, und mehr noch, daß er vom Wildschwein gegessen hatte.

Aufrichtig bedauerte er, daß der Tiger aus Wehmut über den Tod seiner vermeintlichen Mutter gestorben war. Es tat ihm von ganzem Herzen leid, und er warf sich zu Boden und schluchzte bitterlich.