Es war einmal ein Bauer in einem Dorfe. Er lebte zwar in Armut, hatte weder Eltern noch Geschwister, doch verrichtete er immer frohen Mutes, fleißig und ordentlich seine Arbeit. Eines Tages, als der Bauer gerade beim Pflügen war, sprach er selbstvergessen vor sich hin. »Wem nur habe ich versprochen, mit ihm zusammen zu essen und zu leben, daß ich unter solchen Schweißausbrüchen das Feld bestelle und mich abplage?« Da, von irgendwoher, erwiderte ein zartes Stimmchen: »Mir habt Ihr es.«
Der Bauer erschrak heftig und schaute sich nach allen Seiten um. Niemand indessen war zu entdecken. War das nicht sonderbar? Also faßte er sich nun ein Herz und fragte mit lauter Stimme: »Wenn ich hier angepflanzt habe und später das Korn einbringe, mit wem werde ich dann zusammen essen und leben?« - »Mit mir zusammen eßt und lebt Ihr«, antwortete artig eben dasselbe feine Stimmchen.
Als er die Stelle, wo die Stimme herkam, sorgsam untersuchte, fand er unter einem Baum an der Ackerböschung eine Wasserschnecke.
»Warst du es, der meine Fragen beantwortet hat?«
»Ja, so ist es. Wenn Ihr mich mitnehmt und aufzieht, wird Euch Gutes widerfahren«, gab die Wasserschnecke zur Antwort. Das mutete den Bauern sehr wunderbar an, und er brachte die Wasserschnecke nach Hause. Dort setzte er sie in einen Krug sauberen Wassers.
Als er am nächsten Tag in die Küche ging, um sich den Morgenreis zu kochen, traute er seinen Augen kaum. Jemand war vor ihm dagewesen und hatte für das Morgenmahl alles vorbereitet. Nicht nur das, sondern im Wohnraum hing auch sein altes Kleid, das er am Abend abgelegt hatte, reinlich gewaschen und gebügelt. Von nun an fand er jeden Tag morgens, mittags und abends neben stets geschmackvoll zubereiteten Speisen den Tisch auf das Schönste hergerichtet vor. Auch ein neues Kleid war immer zurechtgelegt worden. Ohnegleichen war das Verlangen des Bauern, der rätselhaften Sache auf die Spur zu kommen. Darum tat er eines Tages so, als ob er Holzfällen ginge. In Wirklichkeit aber kletterte er auf den Kastanienbaum am Berg hinter dem Hof und schaute gespannt auf ihn hinab.
Eine Weile später kam die Wasserschnecke aus dem Krug heraus und verwandelte sich in eine schöne Jungfrau. Zu einem tiefblauen Rock trug sie ein damit fein abgestimmtes wasserfarbenes Jäckchen. Die Wasserschneckenjungfrau wusch das Geschirr, das vom Frühmahl des Bauern stehen¬geblieben war, sauber auf, reinigte danach das ganze Haus gründlich bis in jede Ecke und wusch und besserte schließlich das Kleid aus, das der Bauer ausgezogen hatte.
Als sie damit fertig war, war es auch schon Mittag. Eilends kochte sie den Reis und deckte den kleinen Essenstisch, den sie auf den Boden der Wohndiele stellte. Nun wurde sie wieder zur Wasserschnecke und kroch in ihren Krug zurück. Fassungslos und starr vor Erstaunen über diese ganz außergewöhnlichen Dinge fiel der Bauer vom Baum herab. Dennoch wollte er die Wasserschneckenjungfrau wiedersehen. Also betrat er, sich den Anschein gebend, von nichts etwas zu wissen, sein Haus und versteckte sich abermals, nachdem er das Essen verzehrt hatte. Einige Zeit verstrich, bis die Wasserschnecke erneut die Gestalt der Jungfrau annahm. Sie haspelte den Faden von Seidenkokons ab und setzte sich an den Webstuhl und wob.
Dem Bauern war das alles unfaßbar und daneben stieg auch Angst in ihm auf, doch dachte er an die eigenen Worte der Wasserschnecke: >Mit mir zusammen lebt Ihr.< Auch er mochte mit der Wasserschneckenjungfrau unter einem Dach leben. So stellte er sich hinter sie und umfaßte sie jäh. Die Jungfrau erschrak zutiefst und bat flehentlich: »Ach bitte, löst Eure Umarmung! Bis das Wetter kalt geworden ist, müßt Ihr mich ganz in Ruhe lassen.« Der Bauer überlegte eine Weile. Dann entschied er, sich so zu verhalten, wie die Jungfrau es von ihm erbeten hatte, und ließ sie los.
Daraufhin setzte sich das bisherige Leben in der gleichen Weise fort. Doch ehe man sich’s versah, war es auch schon Herbst geworden. Es waren nun genau drei Monate und zehn Tage verstrichen, seitdem der Bauer die Wasserschnecke nach Hause gebracht hatte. Er war nun von morgens bis abends am Arbeiten, um die Ernte einzubringen. Als er an einem solchen Tage erst spät in der Nacht heimkehrte, hatte sich die Jungfrau an das Ende der Wohndiele gestellt und erwartete ihn. Der Bauer war darüber dermaßen erfreut und dankbar, daß er nicht wußte, was er tun sollte.
»Bitte, tretet schnell ein. Die lange Zeit über wart Ihr meinetwegen so geduldig und habt gewartet. Ab heute brauche ich nicht mehr Wasserschnecke zu sein«, sprach sie und geleitete den Bauern in das Zimmer. Im Innern brannten zwei dicke Kerzen; auf einer Matte, in die ein schönes Bild geflochten war, stand ein großer Tisch. Darauf gab es Speisen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, und auch Wein. Aber das war noch nicht alles. Über dem Ehrenplatz, der wärmsten Stelle des geheizten Fußbodens, war ein wundervoller Wandschirm aufgeklappt, und davor lag eine Decke aus Seide von unschätzbarem Wert ausgebreitet.
Die Wasserschneckenbraut wurde die Frau des Bauern, und sie lebten in Glück und Freuden.
Eines Tages trug es sich zu, daß der König bei der Jagd bis in jenes Dorf kam. Als er am Brunnen vorbeiritt, sah er, wie eine schöne, junge Frau Wasser schöpfte. Da regte sich Begierde in ihm. Jene Frau aber war die Wasserschneckenbraut des Bauern.
Der König rief ihr zu: »He, du! Wer ist dein Mann? Sag ihm, er soll sofort hier erscheinen!« Folglich trat der Bauer vor den König. Dieser ließ ihn wissen: »Du mußt morgen mit mir um die Wette den Reis schneiden. Ich schneide auf diesem Feld und du sollst es auf jenem dort. Falls ich zuerst fertig bin, nehme ich deine Frau mit, und wenn du vor mir alles geschnitten hast, werde ich dir die Hälfte des Reiches geben.«
Da grämte sich der Bauer sehr und wollte sich schon aufgeben. »Welcher Kummer drückt Euch denn?« fragte ihn die Wasserschneckenfrau. Und er berichtete ihr von dem Befehl des Königs. »Der König hat mich geheißen, mit ihm um die Wette den Reis zu schneiden. Aber er hat viele Diener, ich dagegen bin ganz allein. Wie könnte ich da gewinnen?«
Die Wasserschneckenbraut, die den Bauern so klagen hörte, übergab ihm einen Ring, den sie an ihrem Finger trug, und riet ihm: »Werft diesen Ring in den Brunnen des Hinterhofs und wartet ab. Dann wird alles ein gutes Ende nehmen.« Damit setzte sie ihre Näharbeiten fort. Der Bauer begab sich, so wie seine Frau gesagt hatte, in den Hinterhof und warf den Ring in den Brunnen. Alsbald ereignete sich etwas wirklich Merkwürdiges. In der Tiefe des Brunnens wurde es plötzlich hell, und indem das Wasser im Brunnen sich teilte, entstand ein breiter Schacht, der nach unten führte. Der Bauer stieg hinab und gelangte schließlich vor ein riesiges Portal. Es gehörte zum Drachenpalast, in dem der König des Meeres wohnte. Der Krake als Pförtner und die Schildkröte als Diener erwarteten den Bauern bereits und führten ihn nun in das Innere des Palastes. Der Drachenkönig war mit einem großen Gefolge von Fischen erschienen und sah, auf seinem Throne sitzend, der Ankunft des Bauern entgegen. Freudig empfing er ihn. Jener erzählte ihm von der verzweifelten Lage, in der er sich befand. Der König hörte ihm zu und beruhigte ihn dann: »Du brauchst nichts zu befürchten. Lebe zufrieden an der Seite meiner Tochter, der Wasserschneckenprinzessin!« Zuletzt gab der Drachenkönig ihm noch einen Kürbis. Diesen brachte der Bauer mit nach Hause. Eine Weile nach seiner Heimkehr graute der Morgen, und der Wettstreit zwischen dem Bauern und dem König begann. Auf dem Feld des Königs schnitten zahllose Diener und Soldaten den Reis, der Bauer jedoch stand inmitten seines Feldes allein. Die Dorfbewohner schauten, von Mitleid erfüllt, zu ihm hinüber. Doch der Bauer zog den Kürbis aus seiner Tasche. Sogleich kamen aus ihm Hunderte und aber Hunderte von Krebsen herausgekrochen. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatten sie das ganze Feld bis auf den letzten Halm mit ihren Scheren abgemäht, alles an einem Ort aufgehäuft und waren wieder im Kürbis verschwunden.
Der König war ärgerlich und bestimmte, diesmal mit Pfeil und Bogen um die Wette zu schießen, denn er war ein ausgezeichneter Schütze. Der Bauer erzählte seiner lieben Frau davon. »Werft den Kürbis nur in den Brunnen«, vertraute sie ihm an. Wie zuvor suchte der Bauer den Drachenkönig auf. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Lebe glücklich mit meiner Tochter zusammen«, sagte der Drachenkönig und gab ihm einen kleinen Bogen mitsamt den Pfeilen.
Am nächsten Morgen trafen sich der Bauer und der König auf einem weiten Feld. Mit bangem Herzen stellten sich die Leute aus dem Dorf um die beiden und paßten auf. Der König war ein wegen seiner hohen Schieß- und Reitkunst berühmter Jäger, der Bauer dagegen hatte sich noch nie in seinem Leben im Bogenschießen versucht.
»Ich will jene Elstern, die auf dem Weidenbaum beim Brunnen sitzen, erschießen und du triff die Wildgänse, die über den Wolken dort fliegen!« ordnete der König an und ließ seinen Pfeil zuerst von der Sehne schnellen. Pfeifend flog er dahin und schoß drei Elstern herunter. Die königliche Dienerschaft applaudierte und brachte die drei Vögel herbei. Jetzt war die Reihe am Bauern. Singend erhob sich sein Pfeil in die Lüfte. Und auf der Stelle holte er unter dem Beifall der Dorfbewohner neun Wildgänse herab. Auch dieses Mal hatte der Bauer gewonnen.
Da meinten die Diener zum König: »Eure Majestät! Jener junge Mann scheint offenbar ein ganz außergewöhnlicher Mensch zu sein. Es dürfte das beste sein, wenn Ihr ihm einen Preis zuerkennt und dann in die Hauptstadt zurückkehrt.« Jedoch der König war ergrimmt darüber, daß er sich der hübschen Frau nicht hatte bemächtigen können und zweimal den Wettstreit verloren hatte. Daher gebot er, zum Schluß noch einmal mit Booten um die Wette das Meer zu überqueren. Die Diener konnten den König nicht davon abbringen, so sehr sie sich auch bemühten.
Er kam in dem schnellsten Schiff des Landes mit zwanzig ausgesuchten, starken Seeleuten als Besatzung. Der Bauer stellte sich in einer kleinen Nußschale ein, die ihm der Drachenkönig gegeben hatte. Beide flogen über das stille, glatte Meer. Das Schiff des Königs war zwar auch geschwind, aber das kleine Boot des Bauern war viel schneller, so daß es das Ziel beinahe schon erreicht hatte. Das Schiff des Königs jedoch befand sich erst mitten auf dem Meer. Da zogen sich plötzlich schwarze Wolken zusammen und wühlten das Meer auf. Ein wilder Sturm peitschte hohe Wellen gegen das Schiff, die es zum Kentern brachten. Der Bauer drehte sein kleines Boot rasch um und rettete die ertrinkenden Menschen. Der böse König aber war so tief im Wasser versunken, daß ihm niemand mehr helfen konnte.
Die Diener und das Volk erwählten den Bauern zu ihrem neuen König. Und es wird berichtet, daß die Wasserschnekkenfrau, die nun Königin geworden war, ihrem Mann half, das Land gut zu regieren.