Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Die bettelnden Brüder




Einst lebten in einem Dorf zwei Brüder, die hatten schon früh ihre Eltern verloren und mußten betteln.

Der jüngere Bruder war sehr gutherzig und artig. Hingegen besaß der ältere Bruder ein Herz aus Stein. Wenn er etwa Reis bekam, so teilte er ihn nicht mit seinem Bruder, son¬dern dachte nur daran, selbst viel zu essen. Und neuerdings fand er es sogar lästig, mit dem jungen Bruder zusammen umherzuziehen und sagte: »He du, ab heute geht jeder sei¬nen eigenen Weg! Ich begebe mich in das reiche Dorf mit den vielen ziegelgedeckten Häusern, und du kannst ja dein Glück in dem Dorf versuchen, in dem die Dächer aus Stroh sind.«

Der jüngere Bruder tat, wie ihn der ältere geheißen hatte. Als dieser in dem Dorf mit den ziegelgedeckten Häusern angekommen war, fand er die Tür eines jeden Hauses fest verschlossen. Es war nämlich gerade eine ansteckende Krankheit aufgetreten, und so gab ihm niemand einen Löf¬fel Reis.

Der jüngere Bruder aber gelangte in das Dorf, dessen Häu¬ser Strohdächer hatten. Eben an jenem Tage wurden in dem Ort viele Feste gefeiert. Er bekam reichlich zu essen und kehrte damit zurück zu seinem älteren Bruder. Als der Böse dies sah, packte ihn der Zorn: »Morgen gehst du in das Dorf mit den ziegelgedeckten Häusern.«

Am nächsten Morgen machte sich der ältere Bruder auf den Weg in das Dorf mit den strohgedeckten Häusern. Doch war die ansteckende Krankheit inzwischen hierhin weitergezo¬gen, so daß jedermann die Tür zugesperrt hatte und sie nicht öffnete. Auch an diesem Tage knurrte dem älteren Bruder der Magen.

Der jüngere Bruder dagegen bettelte, wie befohlen, in dem Ort, in dem viele Häuser mit Ziegeldächern standen. Da die ansteckende Krankheit nun ins Nachbardorf abgewandert schien, führte man in jedem Haus Geisterbeschwörungen durch, für die Speisen und Getränke hergerichtet waren. In Hülle und Fülle bekam der jüngere Bruder Reiskuchen und Fleisch. Er aß sich satt und brachte noch einen vollen Korb für seinen älteren Bruder mit. Da schrie dieser ihn erbost an: »Deinetwegen erhalte ich nicht das, was mir eigentlich zu¬steht. Verschwinde und laß dich hier nie mehr sehen!«

Er war so wütend auf seinen unschuldigen Bruder, daß er ihm ein Auge ausschlug, um ihn schließlich gar zu vertrei¬ben. Völlig niedergeschlagen weinte der jüngere Bruder bit¬tere Tränen und wollte er auf einen Felsen steigen, um sich an einer Schlingpflanze zu erhängen. Doch da drangen son¬derbare Laute von unten an sein Ohr. Er spähte hinab und erblickte Kobolde, die da beieinander saßen und schwatz¬ten.

»Die Menschen sind doch wirklich dumm! Wenn die Blin¬den sich mit dem Quellwasser, das hier unten entspringt, die Augen wüschen und mit den Blättern des Pfirsichbaumes, der neben der Quelle wächst, einrieben, so würden sie von ihren Leiden geheilt. Doch sie tappen unwissend vorbei!«

»Ach meinst du, das wäre alles? Liegt doch die einzige Tochter des reichen Mannes, dessen Haus dort unten steht, im Sterben. Wenn man den hundertjährigen Tausendfüßler, der sich im Dachfirst verkrochen hat, finge und ihn in Öl sie¬dend tötete, würde sie sofort gesund werden. Aber die Men¬schen wissen davon nichts!«

»Ja, und noch etwas! In dem Dorf, das dort zu sehen ist, herrscht große Not, weil es kein Wasser mehr gibt. Die Leute haben keine Ahnung davon, daß sie nur unter dem Baum beim Pavillon zu graben brauchen, damit Wasser her¬vorkommt.«

»Nun laßt mich auch etwas erzählen. Hinter diesem Berg wachsen dicht an dicht wilde Ginsengwurzeln. Niemand hat Kenntnis davon und holt sie aus der Erde heraus. Was meint ihr dazu?«

»Das ist ja alles noch gar nichts! Wenn ich euch erzähle, daß es einen Bösewicht von älterem Bruder gibt, der seinen jün¬geren Bruder erst blendet und dann verstößt, nur um alleine besser zu leben, könnt ihr euch das vorstellen?«

»Wahrhaftig, der Mensch ist die Dummheit selbst.«

Nachdem die Kobolde eine Zeitlang in dieser Weise mitein¬ander geredet hatten, verschwanden sie irgendwohin.

Den Worten der Kobolde folgend, stieg der jüngere Bruder hinab zur Quelle, wusch mit dem Wasser sein blindes Auge und rieb es mit den Blättern vom Pfirsichbaum ein. Kaum hatte er dies getan, so strömte fürwahr das helle Licht wieder in sein Auge. Darauf begab er sich in das Dorf am Fuße des Berges. Vor dem Haus des reichen Mannes bat er um einen Löffel Reis. Einen Augenblick später erschien der Diener und teilte ihm mit, daß die einzige Tochter des Hauses mit dem Tode ränge und sie keine Zeit hätten, Reis zu verteilen. Da meinte der jüngere Bruder, daß er die Kranke heilen könne.

»Was sagst du? So ein dahergelaufener Kerl wie du will das Fräulein retten?« Barsch fuhr der Diener ihn an und war im Begriff, ihn fortzujagen. Doch wegen des Lärms kam der Hausherr heraus und fragte nach dessen Grund. Als der Diener wahrheitsgetreu berichtete, belehrte ihn der Herr, daß man einen Menschen nicht derartig mißachten dürfe, und bat den jüngeren Bruder, einzutreten.

Sobald dieser sich drinnen befand, schaute ihn der Herr sor-genvoll an und erkundigte sich: »Seid Ihr wirklich in der Lage, die Krankheit meiner Tochter zu behandeln?«

Der jüngere Bruder gab ihm zur Antwort, daß sie es zu¬nächst so versuchen sollten, wie er anordnete. Er erinnerte sich an das, was er von den Kobolden vernommen hatte, und ließ also Öl in einem irdenen Topfe sieden. Daraufhin klet¬terte er mit einigen jungen Männern auf das Dach und durchsuchte den First. Es steckte wahrhaftig ein Tausend¬füßler darin, so lang und dick wie ein Bambusstock. Er fing das Untier und warf es in das kochende Öl, daß es starb. Und alsbald war die Tochter, wie durch ein Wunder, von der Krankheit vollkommen genesen. Da der reiche Mann außer sich vor Freude war, machte er den jüngeren Bruder zu sei¬nem Schwiegersohn.

Während der jüngere, brave Bruder in dem Haus des Rei¬chen lebte, veranlaßte er, daß man unter dem Baum beim Pavillon nachgrabe, damit die Leute das Wasser bekämen, das sie nicht länger entbehren konnten. Auch führte er die Dorfbewohner hinter den Berg, ließ sie die wilden Gin¬sengwurzeln ernten und machte sie so alle reich.

Eines Tages saß der jüngere Bruder mit einigen Männern des Dorfes im Hof zusammen, aß mit ihnen und war guter Dinge, als ein Bettler erschien. Der jüngere Bruder betrach¬tete ihn genau und erkannte in ihm seinen älteren Bruder.

»Lieber Bruder, seid herzlich willkommen. Wie erging es Euch inzwischen?«

Mit diesen Worten eilte er seinem älteren Bruder entgegen. Doch dem erschien das zu ungeheuerlich, und er sagte darum mit Tränen in den Augen: »Mein jüngerer Bruder dürfte wohl jetzt nicht mehr am Leben sein, da er blind war.«

»Aber ich bin doch gerade Euer blinder Bruder.«

Dem guten jüngeren Bruder blieben die Worte im Munde stecken. All das Vergangene wurde wieder lebendig. Den¬noch nahm er den älteren Bruder freundlich auf und er¬zählte ihm, wie er zum Schwiegersohn dieser wohlhabenden Familie geworden war.

Und als er die Geschichte seines jüngeren Bruders hörte, bereute der ältere seine Untaten. Von nun an lebten sie glücklich, sie achteten sich gegenseitig, so wie man es von ei-nem älteren und jüngeren Bruder erwartet.