Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Die Bergginsengwurzel und der gute Sohn




Es war einmal irgendwo ein junges Ehepaar. Mann und Frau achteten ihre Eltern sehr und kümmerten sich liebevoll um sie. Niemanden gab es in ihrem Dorfe und selbst in den Nachbardörfern, der sie deswegen nicht kannte. So zeigte der junge Mann seinem Vater, der Witwer war, seine ganze kindliche Anhänglichkeit. Eines Tages lag der Vater an ei¬ner schweren Krankheit darnieder. Zusammen mit seiner Frau pflegte der Sohn ihn aufopfernd, aber es wollte keine Besserung eintreten.

Die beiden machten sich jeden Tag große Sorgen, und da sie mit ihren menschlichen Kräften gar nicht helfen konnten, riefen sie den Herrn des Himmels an: »Ach Himmelsherr, bitte laßt unseren Vater recht bald von der Krankheit gene¬sen. Wenn er wieder gesund werden kann, dann will ich gern dafür sterben.«

Ohne Ausnahme standen sie jeden Morgen in aller Frühe auf und flehten in dieser Weise.

Eines Tages hörte der Sohn, als er gerade wieder nach einem inbrünstigen Gebet an den Himmelsherrn in das Haus treten wollte, draußen vor dem großen Hoftor einen Bettelmönch seinen hölzernen Gong schlagen. Er schaute hinaus und er-blickte einen greisen Mönch, der um eine Gabe bat. Zwar mußte der Sohn selber ein bescheidenes Leben führen, doch reichte er ihm eine Schüssel Reis. Der Mönch war überaus erfreut und sprach zu ihm: »Junger Mann, ich lese in Eurem Gesicht großen Kummer; was bedrückt Euch?«

Der Sohn setzte zum Sprechen an, aber weil ihm dies sinnlos erschien, erwiderte er nur: »Ach, auch wenn ich Euch alles erzählte, so wäre es doch von keinem Nutzen«, und wollte zurück ins Haus gehen.

»Junger Mann, wartet einen Augenblick!« rief der Mönch, und er fuhr fort: »Zwar bin ich nicht unterrichtet, worum es sich handelt, indessen, wer weiß schon, ob es nicht hilft? Laßt einmal hören!«

Der junge Mann fand, daß der Mönch recht hatte, und zog ihn daher ins Vertrauen.

»Oh, das ist wirklich schlimm.«

»Verehrter Mönch, gibt es vielleicht irgendein Mittel?«

»Ein Mittel? Nun ja. Es ist eine Krankheit, die zwar unbe¬dingt zum Tode führt - aber...«

»Sagt, was kann man tun?«

Der Sohn ergriff den Kuttensaum des Mönchs und bat ihn flehentlich zu sprechen.

»Man kann es Euch jungem Mann nicht zumuten«, gab der Mönch zur Antwort und wollte ohne weitere Worte gehen.

»Verehrter Mönch!« Schnell stellte der Sohn sich dem Mönch in den Weg. »Ihr habt angefangen zu reden und möchtet nun einfach fort?«

»Die Arznei, die ich kenne, ist weder in den Bergen noch im Meer zu finden.«

»Wo ist sie dann zu suchen?«

»Man kann sie leicht bekommen, jedoch ist dazu ein außergewöhnlich gutes Herz nötig.« Hier brach der Mönch erneut das Gespräch ab und stand im Begriff, sich zu entfernen. Der Sohn konnte ihn aber so nicht ziehen lassen. Inständig bat er ihn, zu bleiben. Da erklärte der Mönch widerstrebend: »Es ist Euer Sohn, den Ihr opfern müßt!« Ohne sich noch einmal umzuschauen, war der Mönch spurlos verschwunden.

Dem jungen Mann war, als hätte man ihm mit der Keule ei¬nen Schlag versetzt. >Oh, wie soll ich meinen einzigen Sohn...< Schwer drückten die Sorgen den jungen Mann. Er trat in das Haus und besprach sich mit seiner Frau. »Was sol¬len wir tun?« — »Wenn nur die Krankheit geheilt werden kann, so ist es unsere Pflicht. Ist unser Vater einmal gestor¬ben, so haben wir ihn nie wieder. Kinder indessen — können wir nicht später so viele wir wünschen zur Welt bringen?«

Er hatte die Ansicht seiner Frau vernommen und war ihr ewig dankbar. Nun war der Entschluß gefaßt.

Ehe sie sich versahen, war es Abend geworden. Das Kind kehrte von der Schule zurück und hüpfte mit den Büchern unter dem Arm herein. Als sie es erblickten und daran dach¬ten, daß es sterben werde, krampften sich ihre Herzen zu¬sammen. Aber sie hatten wohl keine andere Wahl.

»Kind! Der Großvater schläft gerade im Zimmer, geh in die Küche und nimm dort dein Abendessen ein!«

Das völlig ahnungslose Kind begab sich in die Küche und wurde zur Medizin für den Großvater.

Es war tiefe Nacht. Der junge Mann betrat mit der Arznei¬schale das Zimmer seines Vaters. Dieser erhob sich gänzlich entkräftet, so als wolle er bald aus dem Leben scheiden. Be¬gierig trank er die Schale aus.

»Welches Heilmittel ist das, daß es so wohl tut? Gib mir noch einmal davon.«

Nachdem der Vater einige Schälchen getrunken hatte, sank er in tiefen, tiefen Schlaf. Aber am nächsten Tag, kaum daß der Morgen dämmerte, war der Vater, man mochte es nicht glauben, so gesund, als wäre er nie krank gewesen. Der Sohn und seine Frau, einerseits froh, andererseits auch traurig, waren ganz verstört.

Jedoch es war am Abend des gleichen Tages, als sie eine Stimme vernahmen: »Mutter, jetzt bin ich wieder zurück!« Hatte da nicht ihr Kind gerufen? »Mutter, gestern behielt mich der Herr Lehrer bei sich, weil es so spät geworden war. Ich habe daher bei ihm geschlafen. Bitte, verzeiht.«

Zweifellos war es ihr Sohn. Das junge Ehepaar war mehr als verwirrt. »Es ist bestimmt ein Gespenst«, dachte die Frau und schreckliche Angst überkam sie. »Du hast dich be¬stimmt im Haus geirrt, geh woanders hin!«

»Mutter, was habt Ihr da nur gesprochen?« weinte das Kind.

»Du bist nicht unser Kind. In unserem Haus lebt solch ein Kind wie du nicht...«

»Mutter, ist das wahr?«

Der kleine Sohn war fassungslos. Was sie ihm auch entgegneten, er konnte Vater und Mutter einfach nicht glauben. »Dann, Mutter, fragt doch den Lehrer in der Schule.«

Langsam stiegen in dem jungen Mann doch Zweifel auf, und er ging geradenwegs zum Lehrer. »Hat unser Kind bei Euch, Herr Lehrer, geschlafen?« Bejahend nickte dieser mit dem Kopf. Wie war das aber nur möglich? Wie sehr der junge Mann auch grübelte, er verstand es nicht. Den Kopf in Ge¬danken versunken zur Seite geneigt, kehrte er heim.

ln der Nacht des nämlichen Tages erschien dem jungen Mann im Traum der Mönch. »Verehrter Mönch! Dank Eu¬rer Hilfe ist mein Vater von der schweren Krankheit gene¬sen.«

»Der Dank gebührt nicht mir. Weil Eure Ehrfurcht vor Eu¬rem Vater so grenzenlos ist, wollte ich sie auf die Probe stel¬len und schickte Euch statt Eures Kindes eine tausendjäh¬rige Bergginsengwurzel, die so groß war wie Euer kleiner Sohn und auch sein Aussehen hatte. Wenn Ihr noch den Rest dieser Arznei habt, dann schaut einmal nach.«

Der junge Mann grub an der Stelle, wo die vermeintlichen Knochen seines Sohnes lagen, und in der Tat fand er da die Reste der Bergginsengwurzel.

Die Ginsengwurzel heißt in Ostasien wörtlich >Menschenwurzel<, da sie oftmals in ihrer Form einem Menschen verblüffend ähnelt. Im Deutschen vergleichbar mit der Alraune.