Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Eine Steinfigur als Zeuge vor Gericht




Es lebte einst in einem Dorf ein Seidenhändler. Die Seide schlug er in ein großes Tuch ein, packte sie sich auf den Rükken und ging mit ihr hausieren.

Eines Tages zog er wieder mit seiner Seidenlast durch die Dorfstraßen. Er war schon auf Feldwegen marschiert und hatte sich auf steilen Bergpfaden abgemüht, war auch über Hügel geschritten und hatte Pässe überquert. Als er gerade wieder von einer Anhöhe herabsteigen wollte, beschloß er, ein kleines Weilchen auszuruhen, da ihn Schultern und Beine gar so schmerzten. Er lud seine Bürde ab, setzte sich mit dem Rücken an eine der steinernen Wächterfiguren, wie sie meist vor den Grabhügeln der Könige zu sehen waren.

»Da jetzt ein Fest bevorsteht, wird sich bestimmt alles gut an den Mann bringen lassen«, stellte er sich vor. »Schnell ver-kauft, muß ich meinen Kindern noch neue Kleider machen lassen und ihnen etwas zu essen besorgen.« Doch da die Herbstsonne allzu warm auf ihn herabschien, nickte er mit¬ten in seinen Gedanken ein. Aber schon kurze Zeit später fuhr er wieder auf und sagte: »Jetzt muß ich eilends hinunter und die Seide verkaufen.« Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und wollte sein Seidenpaket aufnehmen. Allein, wo war es nur? Eben erst hatte es doch noch neben ihm gelegen! »Ja, was soll denn das?«

Dem Seidenhändler wurde schwarz vor Augen, und es schwindelte ihm. Zweifellos war er bestohlen worden. Be¬stürzt und verstört schaute er sich nach allen Seiten um, indessen gab es niemanden, der vorübergegangen war, er war allein.

»O weh! Wegen des Feiertags ist es ja nicht so schlimm. Bloß, was soll man dazu sagen, daß ich nun mein ganzes Ge-schäftsvermögen verloren habe!«

Er stürmte den Berg hinab, um den Dieb möglicherweise noch zu ergreifen. Er lief in das Dorf, lugte in die Häuser und warf einmal einen Blick in diese Gasse und dann in jene Gasse - nirgends sah er jemanden eine Last tragen. Er stand da wie ein Häufchen Unglück.

Die Leute im Dorf beobachteten das absonderliche Treiben des Seidenhändlers und verwunderten sich.

»Was fehlt Euch denn?«

»Als ich für einen Augenblick eingeschlummert war, habe ich mein ganzes Vermögen verloren.«

»Wie, das Vermögen verlort Ihr?«

»Ja, mein Paket mit Seide ist weg.«

»Das ist ja wirklich unglaublich! Was ist da nur zu tun? Geht doch einmal zum Richter unseres Dorfes und bittet ihn, den Dieb zu fangen. Unser Richter ist nämlich ein sehr angese¬hener Beamter, der auch den schwierigsten Fall mühelos aufklärt.« Der Seidenhändler begab sich geradenwegs in das Amtsgebäude, in dem der Richter saß. Dieser dachte lange hin und her. Da es niemanden gab, der den Vorfall beobach¬tet hatte, wie konnte man des Diebes habhaft werden?

Der Richter rief den Händler zu sich heran: »Also, du sag¬test, daß niemand da war?«

»Ja, so ist es.«

»Wirklich niemand? Der Dieb, sei er auch noch so schnell zu Fuß, kann doch unmöglich innerhalb eines kurzen Augen¬blicks so weit davonlaufen... Nun, es läßt sich auch niemand nennen, der dich die Seide hat tragen sehen?«

»Nein, niemand.«

»Dann war nur die steinerne Wächterfigur zugegen?«

»Ja!«

»Wenn es sich so verhält, dann hilft nichts! Die Steinfigur wird den Dieb wohl gesehen haben. Ich muß sie doch mal herbringen lassen und befragen!«

>Das ist doch ein Unsinn<, dachte der Händler, >die Steinfi¬gur ist doch kein Mensch, der sehen kann.< Doch befahl der Richter dem Amtsdiener, die Steinfigur herbeizuholen. Mehrere Männer hoben die schwere Figur aus der Erde, schlangen Taue darum und führten sie herab. Wie ein Lauf¬feuer verbreitete sich das Gerücht, daß es eine Gerichtsver¬handlung mit dieser Steinfigur gäbe. Und am Tag der Ver¬handlung, so wird erzählt, fanden sich sehr viele Zuschauer ein. Zuvor schon hatte der Richter den Türsteher angewie¬sen, nur die gutgekleideten Leute hereinzulassen. Die ande¬ren, die nicht hineingehen durften, standen draußen, rede¬ten durcheinander und blickten über den Zaun.

Der Richter stellte sich vor die Steinfigur und eröffnete das Verfahren. »Steinfigur, du hast ja wohl den Dieb, der die Seide entwendet hat, gesehen. Drum wirst du wissen, wer der Bösewicht war. Berichte der Ordnung gemäß, so wie du es beobachtet hast!«

Der Richter machte wilde Augen und kommandierte. Trotzdem, wie sollte der steinerne Wächter sprechen? Die Zuschauer konnten sich des Lachens nicht erwehren und ki¬cherten hinter vorgehaltener Hand. »Der Richter ist schein¬bar verrückt geworden. Befiehlt er der Steinfigur zu reden, hihihi!« Weil die Steinfigur kein einziges Wort von sich gab, riß der Richter seine Augen noch weiter auf und herrschte sie an: »Warum antwortest du nicht? Du steckst mit dem Dieb unter einer Decke! Wirst du wohl antworten!«

Freilich zuckte der Wächter aus Stein nicht ein wenig mit der Wimper. Bis zum Kopf stieg dem Richter der Zorn hoch, und er befahl mit durchdringender Stimme: »Legt diesen Kerl hin und verprügelt ihn!« Die Gerichtsdiener stürzten sich auf die Figur, legten sie auf den Boden und schlugen auf sie mit dicken Knüppeln ein. Weil sie aber trotz der Hiebe stumm blieb, rief der Richter: »Schlagt mehr, schlagt mit al¬ler Kraft!«

»Jawohl.« Und obwohl die Stöcke einer nach dem anderen zerbrachen, züchtigten die Diener sie mit neuen in einem fort. Die Zuschauer fanden den Anblick so lächerlich, daß sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Da sprang der Richter auf, blickte auf die Versammelten herab und fuhr wie ein Blitz mit dröhnender Stimme dazwischen. »Weil ihr lachtet und euch lustig machtet darüber, wie ich zu Gericht sitze, sperrt alle, die gelacht haben, samt und sonders ein!« Die Festgenommenen entschuldigten sich und baten fle¬hentlich um Verzeihung. »Es ist zwar eine schwere Schuld, das Hohe Gericht auszulachen, aber wenn ihr als Bußgeld jeweils ein Tuch Seide entrichtet, werde ich euch aus¬nahmsweise freilassen. Falls ihr es jedoch binnen dreier Tage nicht abgegeben habt, werde ich euch wieder zurück ins Gefängnis stecken.«

Die Seide, welche die Leute auf Geheiß des Richters ablie¬ferten, war immer die gleiche. Der Richter rief nun den Sei¬denhändler und die Bestraften zusammen und sprach zum Händler: »Ist das die Seide, die du verloren hast?«

»Ja, so sah sie aus.«

»Nun, ich will dir alles geben, zähle, ob es vollständig ist.« »Eins, zwei, drei, vier, fünf . . . Drei Tücher fehlen zwar, aber das ist einerlei. Ich bin Euch, Herr Richter, zu großem Dank verpflichtet.«

Dieser schüttelte den Kopf. »Das geht nicht an, man muß doch auch noch den letzten Rest finden.«

Und zu den anderen gewandt, fragte er: »Wo habt ihr diese Seide erworben?«

»Ja, wir haben sie von einem Seidenhändler, der über den Berg ins Dorf gekommen war, gekauft«, erwiderten sie wie aus einem Munde.

Der Richter ließ jenen zweiten Seidenhändler vorführen.

»Du Tunichtgut, gib die restlichen drei Seidentücher heraus, ebenso das Geld, das du vom Verkauf der Seide bekommen hast!«

»Ja, ja, hier ist alles.«

Der Richter gab den Leuten ihr Geld für die gekaufte und dann genommene Seide zurück und verhalf dem Händler so wieder zu seinem Eigentum.