Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Der unheimliche Räuber




Einst hauste im tiefsten Wald ein sonderbarer Mann, der hatte neun Köpfe. Und so waren es natürlich auch neun Münder und Nasen, achtzehn Augen und Ohren. Deswegen konnte er Dinge in der weitesten Ferne besser sehen, die lei¬sesten Geräusche besser hören und die feinsten Gerüche besser riechen als die gewöhnlichen Menschen. Aber noch erstaunlicher waren seine Kräfte, die neunmal größer wa¬ren, als die der anderen. Dieser eigentümliche Mann lebte nicht nur zurückgezogen im Walde, sondern kam auch von Zeit zu Zeit in die Dörfer, um Nahrungsmittel oder nötige Gegenstände zu rauben. Dies war eigentlich keiner beson¬deren Rede wert, doch geschah es manchmal sogar, daß er sich eine schöne Frau fing. Drum gab es niemanden, der nicht aus Furcht vor ihm zitterte. Hörten die Leute in den Dörfen auch nur davon, daß dieser unheimliche Mann wie¬der aufgetaucht war, schauderten sie vor Entsetzen und suchten Hals über Kopf ein Versteck auf. Hätten sie ihre Kräfte auch vereint, so wären sie ihm doch nicht gewachsen gewesen. Und weil sie nur ihr Leben lassen mußten, wenn sie sich wehrten, waren sie gezwungen, sich dreinzufügen. Die Menschen in den Dörfern lebten daher wirklich in stän¬diger Angst.

In einem der Dörfer wohnte ein junger Mann, der so ein-trächtig mit seiner Frau zusammenlebte, wie ein Tauben¬paar. Jedermann beneidete ihn um sein Weib, das wegen seiner Schönheit schon in der ganzen Gegend bekannt war. Aber eines Nachts war das Ungeheuer wieder ins Dorf hinabgestiegen, hatte die schöne Frau und eine Magd, die immer den Reis in der Küche zubereitete, gepackt und mit sich fortgenommen. Der junge Mann war deswegen sehr ver-zweifelt. Sobald der Tag graute, machte er sich auf den Weg, um seine Frau zu suchen. Die Dorfbewohner wollten ihn zu-rückhalten und sagten, daß er nur sein Leben verspiele, wenn er ginge. Doch konnte er nicht tatenlos dasitzen, wenn er daran dachte, daß seine Frau von dem Ungeheuer ent¬führt worden war. Also hörte er nicht auf ihre Warnungen, sondern lenkte seine Schritte in die Berge, in denen das Un¬geheuer sich aufhielt.

Über wieviele Berge er bereits gestiegen war, wußte er nicht. Je weiter er wanderte, desto verlassener und gefährli¬cher wurden sie. Er kannte indes keine Furcht und mar¬schierte den ganzen Tag. Des Abends erblickte er im Schat¬ten eines steilen Berges eine kleine, strohgedeckte Hütte. Da die Dunkelheit in den Bergen hereinbrach, betrat er sie. Es lebte nur ein altes Mütterchen darin.

»Mütterchen, ich bin unterwegs, um den neunköpfigen Räuber zu fangen, wißt Ihr vielleicht, wo er sich befindet?«

»Junger Mann, wollt Ihr allein ihn ergreifen? Wenn es so ist, dann laßt davon um jeden Preis ab. Werft Euer kostbares Leben nicht einfach weg!«

»Ihr bemüht Euch vergebens, ich muß es unbedingt versu¬chen. Ich kann in dieser Welt nicht leben und das Treiben dieses Unholds gleichgültig hinnehmen.«

»Wenn es sich wirklich so verhält, wie Ihr bekundet, dann klettert über diesen Berg, und Ihr werdet auf ein Haus stoßen, das von einer steinernen Mauer umgeben ist. Fragt dort.«

Und wirklich, wie ihm das Mütterchen gesagt hatte, gab es hinter dem Berg ein Haus mit einer Steinmauer. Der junge Mann schob die aus Zweigen geflochtene Tür auf und trat ein. Als er nach dem Hausherrn schaute, erschien nach einer Weile, auf einen Stock gestützt, ein alter Mann mit weißem Haar.

»Was will denn ein solch junger Bursche hier in den Ber¬gen?«

Erstaunt schaute ihn der weißhaarige Greis an.

»Großväterchen, ich bin unterwegs, um den neunköpfigen Räuber zu fangen. Zeigt mir bitte den Weg zu ihm.«

»Hm, du bist zwar sehr tapfer, aber ob du den Kerl bezwin¬gen kannst?«

»Ich sterbe gerne dafür. Einen solchen Bösewicht darf es in dieser Welt nicht geben.«

»Da hast du recht gesprochen. Doch er besitzt überirdische Kräfte...«

»Großväterchen, der Tod schreckt mich nicht zurück.«

»Also gut, junger Bursche«, antwortete der Greis, nachdem er den festen Willen des jungen Mannes erkannt hatte. »Versucht, jenen Felsblock dort hochzuheben.« Dabei wies er auf einen mächtigen Stein, der am Hang des gegenüber¬liegenden Berges lag. Der junge Mann bot all seine Kräfte auf, doch rührte sich der Felsen nicht ein wenig.

»Der scheint wohl zu schwer für dich zu sein. Iß dies hier und versuche es danach noch einmal«, forderte der Greis ihn auf und gab ihm eine Bergginsengwurzel, so groß wie ein Ret¬tich. Der junge Mann aß sie und hob den Stein bis zu den Knien.

»Du bist für den Kampf mit dem Ungeheuer noch nicht stark genug. Iß noch eine Wurzel.«

Dieses Mal konnte er den Stein bis zur Brust stemmen.

»Auch das reicht noch nicht aus«, stellte der weißhaarige Greis fest. »Du mußt eine dritte essen!«

Da erst, nachdem der junge Mann auf Geheiß diese weitere Bergginsengwurzel zu sich genommen hatte, konnte er den Felsblock über den Kopf heben und ihn mühelos schwingen.

»Nun magst du dich auf den Weg begeben. Doch nimm die¬ses Messer mit. Es dürfte bestimmt schwer sein, mit leeren Händen gegen den Räuber anzutreten«, sagte der Greis zu¬frieden und überreichte ihm ein großes Messer.

»Großväterchen, habt vielen Dank! Eure Gunst werde ich nie im Leben vergessen.«

»Ach, es gibt wirklich nichts zu danken; fange nur den bösen Räuber, dann ist alles gut. Gehe so lange, bis dir ein Stein den Weg versperrt. Schiebe ihn zur Seite, und es wird sich ein kleiner Schacht zeigen. Dieser führt genau dorthin, wo der Räuber wohnt. Auf Wiedersehen, und gib acht auf dich!«

Der junge Mann verabschiedete sich von dem Greis und ging bis zu dem Stein, der mitten im Wege lag. Er schob ihn weg und stand unmittelbar vor dem Schacht, in den Stufen eingehauen waren. Lange Zeit stieg er immer weiter ab¬wärts. Doch da, mit einem Male, wurde es hell, und der Aus¬gang gab den Blick frei auf ein großes Dorf.

Vorsichtig schritt der junge Mann in das Dorf. Mittendrin befand sich ein Bauwerk, das einem Königspalast glich. Er schlich sich in dessen Nähe und spähte hinein. Wenigstens neun Portale zählte er, und er sah auch viele Diener. Es war der Palast des Räubers.

Der junge Mann kletterte auf einen hohen Weidenbaum, der vor der Mauer wuchs. Und als er nun von seinem Ver¬steck aus hinabschaute, bemerkte er eine Frau, die zu dem Brunnen unterhalb des Weidenbaumes kam, um Wasser zu schöpfen. Er betrachtete sie genauer. Es war die Magd, die in seinem Hause gelebt hatte. Sie füllte den Krug bis an den Rand mit Wasser. Eilends streifte er eine Handvoll Weidenblätter von den Zweigen und ließ sie in den Krug fallen. Darauf schüttete die Magd das Wasser aus und füllte ihn aufs neue. Nun warf der junge Mann abermals Weidenblät¬ter hinab.

»Es weht doch kein Wind, warum nur verliert der Baum so viele Blätter?« murmelte die Magd verwundert und blickte zum Weidenbaum hinauf. In ihrem ersten Schrecken stand sie wie angewurzelt da. Dann aber erkannte sie ihren Herrn dort droben und fragte kaum hörbar: »Herr, wie kommt Ihr hierher?«

»Nur die Absicht, den Räuber zu töten, hat mich diesen Ort finden lassen. Sage mir, wo in aller Welt steckt er?«

»Im Augenblick ist er außer Haus.«

»Wirklich? Und wo ist deine Herrin?«

»Dort, in jenem Zimmer. Aber Herr, die Stunde, da der Räuber wieder heimkehrt, ist herangerückt. Drum müßt Ihr Euch irgendwo verbergen, nicht wahr?«

»Ja, bitte verstecke mich schnell...«

Die Magd bat ihren Herrn, rasch über die Mauer zu sprin¬gen, damit sie ihn in die Vorratskammer bringen könne. Nachdem dies geschehen war, begab sie sich zu ihrer Herrin und berichtete ihr, daß ihr Mann gekommen sei, um den Räuber zu fangen und sie beide zu befreien. Doch diese sag¬te: »Ach, er hat wohl vor, hier dem Tod direkt in die Arme zu laufen! Laß mich mit ihm in Frieden!« und wollte ihren Mann nicht wiedertreffen. Die Magd ging zur Vorratskam¬mer und erzählte ihrem Herrn von dem sonderbaren Betra¬gen seines Weibes. Schon nach dieser kurzen Zeit mochte die Frau nicht mehr zu ihrem Gemahl zurückkehren.

Vor Ärger am ganzen Körper zitternd, erwartete der junge Mann die Ankunft des Räubers. Doch da erklang plötzlich ein lauter Knall.

»Was ist das für ein Lärm?«

»Das bedeutet, daß der Räuber noch zehn Meilen bis hier¬her zurückzulegen hat.«

Nach einer Weile war wiederum ein Knall zu vernehmen. »Jetzt ist er nur fünf Meilen entfernt.« Der junge Mann hielt den Griff seines Messers fest in der Hand.

»Herr, erschlagt dieses Scheusal und rettet uns.«

»Ja, mach dir keine Sorge.«

Da ertönte ein Getöse, das einem Donnerschlage glich, die neun Portale sprangen alle zur gleichen Zeit auf, achtzehn Augen funkelten und der Räuber mit den neun Köpfen trat ein. Alsbald lief ihm die Frau des jungen Mannes, die bis da¬hin in ihrem Gemach gewesen war, freudig entgegen.

»Lieber Mann, heute ist offenbar ein besonders glücklicher Tag. Während ich in meinem Zimmer saß, habe ich Euch jemanden gefangen.«

»Was ist das für ein Kerl?«

»Er ist ganz unbedeutend, darum eßt nur zunächst.«

Die Magd, die diese Worte gehört hatte, eilte zu ihrem Herrn und teilte es ihm mit. »O Herr! Es ist etwas Schlim¬mes geschehen. Die Herrin hat verraten, daß Ihr Euch hier aufhaltet.«

»Hm, wirklich? Dann muß ich als erster hinaus und kämp¬fen.« Der junge Mann zog das Messer aus dem Gürtel, trat in den Hof und rief mit lauter Stimme: »Du neunköpfiger Schurke! Stürbest du auch neunmal, so wärst du trotzdem ein abscheulicher Kerl! Komm doch heraus!«

Der Räuber öffnete die Tür und schaute hinaus. Doch es kümmerte ihn wenig, daß da ein so winziges Männchen stand, das ihn so unerwartet beschimpfte.

»Du Bösewicht, wenn du nicht bald kommst, dann töte ich dich, ohne daß du dich vorher wehren kannst!«

Am Ende ergriff der Räuber sein Messer und trat vor den jungen Mann. Geschwind stieß dieser ihm seines gegen die Brust. Doch machte der Räuber einen schnellen Satz zur Seite und wich dem Messer aus. Aber auch der junge Mann entging dem Gegenschlag geschickt und hieb zurück. Die in der Luft tanzenden Klingen zuckten wie Blitze. Die Frau des jungen Mannes, die den Räuber für unbesiegbar hielt, hatte nicht geahnt, daß ihr früherer Mann so gut zu kämpfen ver¬stand. Als die beiden eine Weile so gegeneinander gefochten hatten, schien der neunköpfige Räuber zu ermüden, denn er wurde vom Messer des jungen Mannes hin- und hergehetzt. Immer wieder glaubte dieser, den Räuber end¬lich besiegt zu haben. Die Magd bangte um das Leben ihres Herrn und stand schreckliche Ängste aus.

Die zwei sprangen immer höher in die Luft und schwangen ihre Messer. Dies währte eine geraume Weile. Da, als der Kampf so wild geworden war, daß selbst ihre Körper nicht mehr zu sehen waren, fiel ein Kopf herab.

>Jetzt ist er tot!< dachte die Frau des jungen Mannes. >Es sollte so sein. Welche Möglichkeit hätte ich schon, das schwache Weib, den neunköpfigen Räuber zu bezwingen?<

Doch von dem jungen Mann, aufs höchste erstaunt, ließ sich ein »Potz!« vernehmen, denn nicht sein Kopf war gefallen, sondern einer des Räubers. Die Magd atmete erleichtert auf.

Darauf schlug er dem Räuber einen weiteren Kopf ab, dann noch einen dritten und vierten, bis alle neun Köpfe am Bo¬den lagen, und der Leib des Unmenschen umsank.

Der junge Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn und näherte sich langsam der Stelle, wo seine Frau stand.

Welche Anstrengungen hatte er auf sich genommen, um seine geliebte Frau zu finden! Sein Leben wagend, war er bis an diesen Ort gedrungen, sie zu retten. Aber sie freute sich nicht, ihn wiederzusehen, und wollte lieber sterben. Hilflos und geistesabwesend schaute er in ihr Gesicht, das aschfahl geworden war. Er kehrte sich von ihr ab und durchsuchte mit der Dienerschaft des Räubers den Palast bis in den letz¬ten Winkel. In einem Speicher war bis oben hin Korn ge¬häuft, in einem anderen türmten sich Gerippe. Und in einem dritten waren zahllose gefangene Menschen eingesperrt.

Der junge Mann verteilte alles, was er dort fand, unter die Diener des Räubers und die Menschen, die dieser hierher verschleppt hatte. Er belud Pferde und Rinder schwer mit Gold und Edelsteinen und verließ das Haus des Räubers. Auf dem Rückweg besuchte er den greisen Mann und das alte Mütterchen und schenkte ihnen aus Dankbarkeit von den Schätzen.

Der junge Mann kehrte heim, nahm die frühere Magd zur Frau, und sie lebten miteinander glücklich und zufrieden.