Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Der Tausendfüßler und die Kröte




Einst lebten in einem Dorfe eine arme Mutter und ihre Tochter. Sie waren so mittellos, daß sie des Morgens und Abends, zu den Mahlzeiten, öfter hungerten als aßen.

In einem dieser dürftigen Jahre dauerte die Regenzeit über¬aus lange an. Es war an einem Tage, da es unaufhörlich und in Strömen regnete, als eine Kröte bis zu ihrer Küche kam und hineinkroch. Die Tochter ekelte sich vor ihr und wollte sie wieder nach draußen setzen, aber am Ende empfand sie doch Mitleid mit dem Tier, obwohl es doch nur so klein und unbedeutend war. Also gab sie der Kröte von den Abfällen und zog sie auf. Diese war sehr dankbar dafür, daß man nicht geizte und ihr, trotz der kärglichen Verhältnisse, zu essen gab. Sie wollte das Haus deshalb auch nicht wieder verlas¬sen, und sie gedieh prächtig. Wenn man sie morgens und abends anschaute, so war am Abend nicht zu übersehen, daß sie schon wieder um ein gutes Stück größer geworden war. Bald hatte sie wohl die Größe eines Welpen. Nachdem die Kröte herangewachsen war, aß sie so viel, wie sie nur konn¬te, so daß der Anteil an Reis für Mutter und Tochter immer geringer wurde. Dennoch zeigten diese niemals Unwillen, sondern gaben der Kröte jeden Tag, ohne auch nur einen einzigen auszulassen, von ihrem Reis.

Hinter dem Dorf, in dem die Mutter mit ihrer Tochter lebte, erhoben sich hohe Berge. In ihnen hauste ein ururalter Tausendfüßler. Dieser besaß wie ein Gott die Macht, Trocken-heit über das Land zu schicken oder es regnen zu lassen.

Wegen dieser überirdischen Kräfte hatten die Dorfbewoh¬ner dem Tausendfüßler in den Bergen einen Schrein errich¬tet, und sie brachten ihm sogar Opfer dar. Denn sie glaubten fest daran, daß nur ein reichliches Opfer eine gute Erntebescherte und vor den wilden Tieren in den Bergen schützte. Und bei dem alljährlichen großen Opferfest mußte nach al¬tem Brauch auch eine Jungfrau aus dem Dorfe zum Schrein hinaufgeführt werden, um den Tausendfüßler geneigt zu stimmen. Sie mußte die Nacht über dort oben verbringen und dem Ungetüm zu Willen sein. Dies nahm sie dann zur Frau, und sie durfte später niemand anderen heiraten.

In jenem Jahre wurde zur Braut des Tausendfüßlers das Mädchen bestimmt, das die Kröte fütterte. Es war sehr trau¬rig. Düster war die Zukunft, und der Gedanke, als Weib des Tausendfüßlers leben zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu. Aber es ließ sich nichts ändern, und die Jungfrau konnte sich nicht weigern, denn nur durch ihr Opfer wurden die Men¬schen im Dorf vor Unheil bewahrt. Die Jungfrau erzählte der Kröte von ihrer verzweifelten Lage. Zwar konnte die Kröte nicht sprechen, doch kamen ihr aus Wehmut Tränen in die Augen.

Der unglückselige Tag war herangerückt. Die Leute hatten den Opfertisch hergerichtet, und während sie die Opfermu¬sik spielten, betrat die Jungfrau der Not gehorchend den Schrein. Zufällig schaute sie sich um. Ohne daß sie es be¬merkt hatte, war ihr die Kröte gefolgt. Noch einmal fragte die Jungfrau das Tier nach einem Ausweg, doch dieses blieb stumm.

Die Dorfbewohner waren nach Hause gegangen, und es war tiefe Nacht geworden. Drückende Finsternis umgab die Jungfrau. Unruhe und Grauen ließen sie am ganzen Körper erzittern. Doch besänftigte sich ihr Herz ein wenig dadurch, daß die Kröte neben ihr saß. Sie dachte an das Kommende. Es war Mitternacht. Ein eisiger Wind erhob sich, und der Tausendfüßler, wohl mehrere Klafter lang, erschien vor der Tür. Er wollte zur Jungfrau. Ihr Leib erstarrte. Aus den Au¬gen des Ungeheuers gleißte grünes Licht.

Als der Tausendfüßler indes die Kröte erblickte, schreckte er zurück, denn kaum hatte diese das grüne Funkeln seiner Augen bemerkt, als sie auch schon hervortappte und mit dem Tausendfüßler zu kämpfen begann. Der Tausendfüßler spritzte Gift und auch die Kröte fauchte aus ihrem Munde todbringenden Atem. Unter ohrenbetäubendem Lärm, der in den Bergen widerhallte, und in stürmischem Winde ran¬gen die beiden Tiere miteinander auf Leben und Tod. Die Jungfrau aber war vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen.

Am nächsten Morgen versammelten sich die Dorfbewohner bei dem Schrein. Doch es bot sich ihnen ein unerwarteter Anblick. Tausendfüßler und Kröte waren durch die giftigen Gase, die sie im Kampf eingeatmet hatten, niedergestreckt worden, und die Jungfrau lag in tiefem Schlaf. Man bereitete ihr einen Reisschleim. Als sie damit gefüttert werden sollte, erwachte sie. Die Kröte hatte aus Dankbarkeit für die Wohl-taten der Jungfrau todesmutig mit dem Tausendfüßler ge-kämpft und war für sie gestorben.

Die Dorfbewohner begruben die Kröte an einem schönen Ort. Den Tausendfüßler indessen ließen sie in Flammen aufgehen. Er brannte drei Monate und zehn Tage, und man erzählt, daß Rauch und Gestank bis zum höchsten Himmel hinaufstiegen.

Seit dem Ende des Tausendfüßlers aber, der das Dorf lange Zeiten über gepeinigt hatte, hielt niemand mehr für ihn ein Opferfest ab, und auch der grausame Brauch, ihm eine Jungfrau zu opfern, verschwand für immer.