Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Halbling




Es lebten einmal in einem Dorf Mann und Frau, die hatten zwei Söhnen das Leben geschenkt.

Der älteste sah so aus wie jeder Mensch. Der jüngere hinge¬gen war als Mißgeburt zur Welt gekommen. Das, was er mit einem gesunden Menschen gemeinsam hatte, waren die zwei Beine. Sonst besaß er nur ein einziges Auge, Ohr und Nasenloch, einen Arm und einen halben Mund. Er war der scheußlich anzusehende Halbling.

Ohne an irgendeiner anderen Krankheit zu leiden, wuchs er gut heran. Doch der Vater dachte jedesmal, wenn er ihn sah: >Wenn dieses sonderbare Kind groß geworden ist, wird es das Leben nicht meistern. Stürbe es nur recht bald, so wäre es besser...<

Auch Halblings älterer Bruder sagte: »Wegen meines derar¬tig verkrüppelten Bruders nennen uns alle Leute schon >Halblings Vater<, >Halblings Mutter< und >Halblings älterer Bruder<. Vor Scham kann man nicht einmal heraus.« Er haßte ihn, weil er ihm solch großen Verdruß bereitete.

Und von den Fremden ganz zu schweigen! Sahen sie Halb¬ling nur, dann fingen sie auch schon an, ihn zu hänseln und zu schlagen.

Doch die Mutter hatte keine dieser Empfindungen. Für sie war er, ganz wie ihr ältester Sohn, ein liebes Kind, das ihr ans Herz gewachsen war, auch wenn es nur eine Hälfte hatte. Ja, im Gegenteil! Aus Mitleid gab sie ihm öfters etwas Gutes zu essen und war noch besorgter um ihn als um die anderen, wenn er einmal krank zu sein schien.

So empfing er zwar nur die Liebe der Mutter, doch wuchs er dennoch tüchtig und war gesund, sah man von seinem mißgebildeten Körper einmal ab. Im Vergleich zu den anderen Kindern war er sogar größer und stärker, und je älter er wurde, desto höher überragte er sie, schließlich war es bei¬nahe um das Doppelte. Und seine Kräfte überstiegen die ih¬rigen einige Male. Die Arbeiten in Wald und Feld, für wel¬che die Erwachsenen den ganzen Tag benötigten, erledigte er in kürzester Frist.

Doch Halbling trieb auch viel Unfug. Bei seiner Kraft mußte die Familie oft darunter leiden. So stieg er einmal auf den Berg hinter ihrem Haus, um Hasen zu jagen. Einer war in den Spalt zwischen zwei großen Felsblöcken gesprungen, weil er vor Halbling, der noch schneller gelaufen war, nicht mehr hatte fliehen können. Mit Leichtigkeit hob der starke Halbling einen der mächtigen Steine auf und schleuderte ihn fort. Dann fing er den Hasen und kehrte zurück.

Doch in seinem elterlichen Hause war alles in heller Aufre-gung. Das riesige Felsstück, das Halbling geworfen hatte, war auf den Stall gefallen und hatte den einzigen, so wertvol¬len Stier darinnen erschlagen.

Da wurde der ältere Bruder sehr zornig. »Du Nichtsnutz, wegen dir geht die Familie elend zugrunde. Du Krüppel hast nur Dummheiten im Kopf und richtest so großen Schaden an; du kannst nicht länger leben«, herrschte er ihn an und führte ihn in den Bergwald hinauf.

»Ach, älterer Bruder, nie wieder werde ich etwas falsch ma-chen. Verzeiht mir bitte. Ich will den Stall wieder aufbauen und an Stelle des Stiers den Acker pflügen, drum laßt mich am Leben«, bat Halbling. Auch seine Mutter flehte, ihn zu entschuldigen. Aber der Vater ließ den ältesten Sohn ge¬währen, da er von ohnmächtiger Wut erfüllt war.

Also brachte der ältere Bruder Halbling tief in den Wald. Doch was sollte er mit Halbling tun? Wie sehr er auch nach¬dachte, er sah keine Möglichkeit. Er mochte ihn nicht selbst töten und war darüber hinaus ja viel kleiner und schwächer als er. Schließlich kam er auf den Gedanken, Halbling mit einem Strohseil fest an den Stamm eines hohen Baumes zu binden. »Wie du weißt, leben hier in den Bergwäldern viele Tiger. Heute nacht wird dich wohl einer fressen. Welchen Sinn hat es, wenn solch ein Krüppel wie du lange lebt? Stirb in Frieden und füge deiner Familie keine Schmach mehr zu.« Mit diesen Worten steckte er ihm ein Stück Reiskuchen in den Mund und kehrte weinend um. Halbling war zwar eine Mißgeburt und der ältere Bruder hatte immer seinen Tod herbeigewünscht, dennoch bedauerte er ihn, denn sie waren ja Geschwister, von einer Mutter geboren.

Halbling sprach kein Wort, er stand nur da und schaute der immer kleiner werdenden Gestalt seines älteren Bruders nach.

Es waren drei Tage verstrichen, als am frühen Morgen des vierten das Haus durch einen gewaltigen, dröhnenden Schlag erschüttert wurde. Entsetzen packte die Familie Halblings. Früher, als seine Angehörigen noch mit ihm zu¬sammenlebten, gab es nichts auf der ganzen Welt, was sie fürchteten — nun aber war kein Halbling mehr da. Sie ver¬krochen sich unter ihren Decken und zitterten vor Furcht.

Doch im nächsten Augenblick erklang ganz unerwartet auch die Stimme Halblings: »Mutter, Vater, Bruder!«

Eilig sprangen die drei hinaus. Doch wie erstaunten sie, als sie sich einem mächtigen Baum gegenübersahen, der dort nie gewesen war, und Halbling, noch so wie ihn der Bruder Tage zuvor angebunden hatte, an dessen Stamm stand und drei tote Tiger am Schwanz gepackt hielt. ,

»Lieber älterer Bruder, so wie Ihr sagtet, versuchte ich zu sterben. Indessen konnten die Tiger, die jede Nacht kamen, mir nichts anhaben. Was soll ich tun?« fragte Halbling.

»Aber nein, wir sind es, die ein schweres Unrecht begangen haben«, antwortete der Vater, und alle drei weinten bitter¬lich. »Wir werden dich bestimmt nie wieder hassen. Als wir die Mutter tagaus, tagein weinen sahen, wie sehr haben wir da unsere Tat bereut«, beteuerte der ältere Bruder, indem er das Strohseil löste.

»Halbling, bleib nicht beim Baum stehen, sondern komm mit uns schnell ins Haus!« rief die Mutter freudig und zog ihn am Arm. Halbling faßte sie bei der Hand und betrat mit ihr das Zimmer.

Der große Baum fiel nicht um. Sobald Halbling ihn auf dem Rücken über den Zaun getragen hatte, waren seine Wurzeln nämlich tief in die Erde eingedrungen und stützten ihn. Die¬ser Baum spendete der Mutter im heißen Sommer bei ihren häuslichen Arbeiten kühlen Schatten, und die Familie ver-sammelte sich nach getaner Arbeit gerne um ihn.

Von nun an lebten sie glücklich und in Eintracht miteinan¬der. Sie verkauften die Felle der Tiger, die Halbling ge¬bracht hatte, richteten danach den Stall wieder her, besorg¬ten sich einen neuen Stier und bestellten ihre Felder. Halb¬ling wurde auch folgsam und arbeitete fleißig. Dadurch wurde seine Familie die reichste im ganzen Dorf. Schließlich nahm sich der ältere Bruder eine Frau und gründete einen eigenen Hausstand.

Inzwischen war Halbling ein junger Mann geworden. Eines Tages richtete er folgende Worte an seine Mutter: »Auch ich werde nun wohl heiraten müssen. Ihr seid zu hohen Jah¬ren gekommen, und es wird besser sein, wenn eine Schwie-gertochter Euch das Essen bereitet.«


»Das ist wahr«, seufzte die Mutter tief. »Ich habe immer daran gedacht. Aber wie du selbst weißt, mußt du erst eine Braut finden, die sich mit dir vermählen will.«

»Die einzige Tochter des Statthalters namens O im Nach¬barort würde mir als Braut gut gefallen.«

»So etwas darfst du nicht laut sagen! Jenes Haus ist sehr wohlhabend, und es sind Edelleute, die ein sehr einflußrei¬ches Amt bekleiden. Sieht es denn so aus, als gäben sie ge¬rade dir ihre innig geliebte, einzige Tochter?«

»Mutter, macht Euch darum keine Sorgen. Ich werde alles so gut einrichten, daß Ihr nur ruhig abzuwarten braucht.«

Von diesem Tag an verbreitete Halbling im ganzen Dorf das Gerücht, daß die Tochter des mächtigen O seine Frau wür¬de. Schon bald erzählte man sich davon auch im Nachbarort. Als dann dem Statthalter O dies persönlich zu Ohren kam, geriet er in hellen Zorn: »So ein unverschämter Kerl! Ein Krüppel, der seinesgleichen auf der Welt nicht hat, wirft ein Auge auf meine einzigartige Tochter! Was erdreistet er sich nur?«

Der Statthalter wetterte gewaltig über Halbling, hatte aber andererseits Angst vor dessen ungeheuren Kräften.

»He, Diener, hört alle her! Jeder von euch nimmt sich einen Knüppel und bewacht das Haus. Und paßt mir gut auf, daß sich Halbling, wie dieser Spitzbube heißt, hier nicht zeigt!« schärfte er ihnen ein.

Die Diener ergriffen die Stöcke und verteilten sich auf das große Tor, die kleineren Türen, die Hinterpforte und jeden Eingang. Auch im Vorder- und Hinterhof, selbst in der Die¬le, standen starke Diener zum Schutz. Und als die Dunkel¬heit hereinbrach, wurden es in Haus und Hof noch mehr Menschen. Sie zündeten Fackeln an und blieben die ganze Nacht hindurch auf.

Da verstärkte sich noch das Gerücht, und weil die Familie des vornehmen O nun sehr ernsthaft befürchten mußte, daß Halbling käme und die Tochter raubte, schliefen sie weder tags noch nachts, sondern wachten nur.

So verstrichen drei Tage.

In der darauffolgenden Nacht aber begab sich Halbling zum Haus des Statthalters. Alle Menschen, die darin wohnten und die so lange nicht geruht hatten, lagen jetzt in tiefem Schlaf. Halbling band die Haarknoten der schnarchenden Torwächter an die Torgriffe und trat ein. Der Mann in der Diele war vor Müdigkeit umgefallen. Ihn bedeckte er mit ei¬nem großen Kessel, in dem das Futter für das Vieh zuberei¬tet wurde.

Darauf bestrich er den Bart des Statthalters, der im Herren-zimmer saß und schlummerte, mit Schwefel. Neben ihm lehnte der Sohn schlafend an der Wand. Nachdem er an des¬sen Hände Stöcke befestigt hatte, blies er das Licht in der Laterne aus und betrat leise den nächsten Raum.

Der Schwiegertochter, die dort lag, und auch eingeschlafen war, knüpfte er eine Trommel und den Schlegel an die Hän¬de. In das Frauengemach gelangt, wickelte er das eine Ende einer Schnur um den Leib der Brautmutter und das andere um einen flachen Stein, auf dem die Frauen die Kleider glattklopften.

Schließlich band er noch die Haarknoten der Diener zu-sammen, die im Vorder- und Hinterhof vom Schlaf über¬mannt worden waren, und löschte deren Fackeln.

Als er damit fertig war, schlich er ins Zimmer seiner Braut, das sich im hinteren Teil des Hauses befand. Die Jungfrau hatte vor Angst einige Tage kein Auge zugetan. Doch dann war draußen Ruhe eingetreten, sie hatte sich besänftigt und lag nun in tiefem Schlaf.

Halbling umhüllte die Jungfrau mit einer seidenen Decke, hob sie auf seine Arme und verließ das Haus, indem er laut zurückrief: »Ich, Halbling, führe meine Braut hinaus!«

Dem Statthalter klang dies wie ein Donnerschlag, und er wurde sogleich aus dem Schlaf gerissen. Da indessen im gan¬zen Hause Dunkelheit herrschte, wollte er die Glut im Feu¬erbecken anblasen. Alsbald fing aber sein mit Schwefel be¬strichener Bart Feuer und er jammerte: »O weh, o weh, wie heiß!« Während er es mit beiden Händen ausrieb und her¬umsprang, stieß er gegen die Füße seines Sohnes.

»Vater, was ist mit Euch?« Aufgeregt eilte der Sohn dem Vater zu Hilfe und fuchtelte mit beiden Armen. Aber die Stöcke, die an ihnen hingen, versetzten den beiden rasche, schmerzende Hiebe. »Hilfe, Hilfe! Der grausame Halbling schlägt uns«, schrien Vater und Sohn.

Die Schwiegertochter, die bei dem Gezeter aufgeschreckt war, zuckte so mit den Armen, daß die Trommel ertönte.

»Ach, Halbling ist auch im Nebenzimmer!«

Die Mutter der Braut erwachte jäh. Sie erhob sich und wollte zur Schwiegertochter - doch perdautz! - saß sie auch schon wieder auf dem Boden. »Der Lump hält mich fest! Laß mich los!« schimpfte sie und war des festen Glaubens, Halbling hätte sie ergriffen.

Der Diener in der Diele, auf dem der schwere Kessel lastete, stöhnte: »Halbling, du Schuft! Warum drückst du mich nie¬der? Gib mich frei!«

Die Diener vor den Toren und ebenso die im Vorder- und Hinterhof meinten sterben zu müssen: »O je! Unsere Haar-knoten! Halbling zieht an unseren Haaren! Laß uns am Le-ben!«

Überall im Hause schien Halbling zugleich zu sein. Doch während die anderen vor Angst nicht wußten wo aus noch ein, war Halbling längst mit seiner Braut auf den Armen heimgekehrt. Er legte sie auf die wärmste Stelle des geheiz¬ten Fußbodens und sprach mit sanfter Stimme: »Werdet bitte meine Frau. Ich wollte Euch gerne in einer Sänfte hier¬her führen, aber die Umstände ließen es nicht zu. Verzeiht, daß ich Euch solchen Schrecken bereitet habe.«

Die Jungfrau schaute Halbling an. Nichts konnte schreckli¬cher aussehen, als seine äußere Gestalt. Allein sein Mut und seine Klugheit erweckten Vertrauen, und weil er sie auch von ganzem Herzen mochte, gewann sie ihn lieb. Sie lächelte ihn an, ergriff mit beiden Händen seinen einzigen Arm und hieß ihn, sich zu setzen. »Ja, ich möchte Eure Frau werden.«

Als Halbling ihre Worte vernommen hatte, strahlte er vor Glück und ging mit ihr in den Vorderhof. Nun hielt er ihre Hand und sie verneigten sich dreimal vor dem Osthimmel. Nachdem sie wieder in das Zimmer getreten waren, sagte Halbling: »Schau mich einmal an.«

Doch was war da geschehen? Der Mensch, der bis gerade eben noch der häßliche Halbling gewesen war, hatte sich in einen gesunden, edlen, jungen Mann verwandelt.

»Ich komme eigentlich aus dem Himmelsreich», erklärte er. »Weil ich aber dort nur Unfug trieb, bestrafte mich der Himmelsherr mit jener Krankheit und schickte mich auf die Erde. Er versprach mir indessen, sie zu heilen, wenn ich mich zusammen mit einer lieben Jungfrau dreimal verbeug¬te. Da Ihr, liebe Braut, mir gelobtet, meine Frau zu werden, hat der Himmelsherr sein Wort eingelöst.« So sprach Halb¬ling, der nun zwei Augen, Ohren, Arme, eine richtige Nase und einen ganzen Mund hatte. »Morgen wollen wir meinen und Euren Eltern unseren Gruß darbringen und sie um ihre Einwilligung zu unserer Hochzeit bitten.«

Und ehe sie sich’s versahen, drang das erste Licht durch das Ostfenster.