Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Der berühmte Bogenschütze




Es war einmal ein junger Bursche, der lebte mit seiner Mut¬ter in einem sehr armseligen Haus.

Eines Tages nahm er sich vor, Vögel zu schießen. Er fertigte einen Bogen und trat mit ihm hinaus. Als er eine Weile ge-gangen war, erblickte er einen Krug, auf dessen Boden noch etwas Reis übriggeblieben war. Spatzen saßen drinnen und pickten ihn auf.

»Richtig! Diese Spatzen will ich erhaschen«, sprach er zu sich selbst. Flugs stülpte er über die Öffnung des Krugs einen Strohbeutel, den er bei sich hatte, und fing so alle Spatzen. Er spießte sie auf einen Pfeil, den er auf die Schulter nahm. Dann zog er weiter.

Nach einer geraumen Weile gelangte er an ein großes, ziegelgedecktes Haus. Davor stand ein alter Mann, der ein gramerfülltes Gesicht hatte. Doch als er den Burschen vorüberschreiten sah, machte er große Augen und rief ihn an: »He, Bursche! Hast du die Spatzen, die du bei dir trägst, mit Pfeil und Bogen erlegt?«

»Ja. Wie ich durch das Dorf dort oben kam, saßen die Spat¬zen in einer Reihe auf der Wäscheleine. Da habe ich sie al¬lesamt mit einem einzigen Schuß heruntergeholt«, log er.

»Oho, du bist ein ausgezeichneter Bogenschütze! Es gäbe da etwas, was ich mit dir deswegen gerne bespräche. Möchtest du nicht für einen Augenblick in unser Haus treten?«

»Ich weiß zwar nicht, worum es sich handelt, will Euch aber folgen, weil Ihr mich, als so viel Älterer, darum gebeten habt«, antwortete der junge Bursche und ließ sich von dem alten Mann in das Haus mit dem Ziegeldach führen.

Dieser bewirtete ihn freundlich und erzählte ihm, was er auf dem Herzen hatte.

Es war folgendes. Der alte Mann war der reichste Einwoh¬ner seines Dorfes. Er lebte glücklich mit seinen drei Söhnen und seiner Tochter, bis sich eines Nachts eine Krähe auf den Kakibaum im Hinterhof gesetzt und gekrächzt hatte. Am nächsten Morgen lag der älteste Sohn tot im Bett. Einige Tage später war der Unglücksvogel wieder herbeigeflogen und ließ seinen schaurigen Gesang ertönen, worauf der zweite Sohn starb. Mittlerweile waren von der Familie des Mannes nur er selbst und seine Tochter übriggeblieben.

»Heute nacht wird sich diese böse Krähe wieder hier einfin¬den und krächzen. Weil nun einer von uns beiden, ich oder meine Tochter, an der Reihe ist, stand ich voller Sorgen vor dem Tore. Da traf ich dich. Zweifellos hat der Himmel dich mir geschickt. Bitte, bleibe bei uns und erschieße mit deinem Pfeil die Krähe. Wenn es dir gelingt, so gebe ich dir alles, was es auch sein mag«, seufzte der Mann und wischte sich mit dem Rocksaum die Tränen.

»Ihr seid wirklich in einer schlimmen und bedauernswerten Lage. Aber macht Euch keine Sorgen. Dieser gräßlichen Krähe werde ich bestimmt den Garaus machen«, versicherte der Bursche lauthals.

Jedoch bereitete ihm sein Versprechen große Kopfschmer¬zen, und er dachte angestrengt nach, wie er die Krähe in seine Gewalt bringen könnte. Schließlich hatte er einen gu¬ten Einfall.

»Richtig! So will ich es versuchen«, freute er sich und schlug sich auf die Schenkel.

Es war Nacht geworden. Der Bursche hieß den alten Mann und seine Tochter im Zimmer bleiben und die Tür fest ver¬riegeln. Er zog darauf seine Kleider aus und bestrich seinen ganzen Körper mit schwarzem Tuschwasser, das er schon vorbereitet hatte. Dann kletterte er auf den Baum und blieb dort regungslos sitzen.

Es wurde immer finsterer. Er hielt den Atem an und rührte sich nicht. Da erklangen Flügelschläge, und die Krähe ließ sich in dem Kakibaum nieder, gerade vor den Augen des jungen Burschen. Pechschwarz wie er war, bemerkte der Vogel ihn nicht, öffnete seinen Schnabel und stieß einen hei¬seren Schrei aus.

»Hab’ ich dich, du üble Krähe!« und schon hatte der Bur¬sche zugepackt, bohrte ihr einen Pfeil durch die Augen und warf sie hinab. Vor Tagesanbruch wusch er die Tusche fein säuberlich ab und kleidete sich wieder an.

Als der alte Mann am Morgen die tote Krähe erblickte, umarmte er den Burschen. Er war außer sich vor Freude und Dankbarkeit. Hernach kamen auch die Leute aus dem Dorf und lobten den Burschen. Er holte seine Mutter zu sich, hei-ratete die Tochter des alten Mannes und lebte nun glücklich. Allerdings gab es etwas, das den Burschen sehr bedrückte. Es wurde nämlich ein Wettkampf aller Bogenschützen des Landes durchgeführt, an dem auch er teilnehmen sollte.

»Nun ist es gewiß, daß meine Lügen offenbar werden«, dachte er sofort und seufzte tief.

Der Tag des Wettstreits war herangerückt. Die versammel¬ten Schützen ließen ihre Pfeile von den Sehnen schnellen und ein jeder traf, niemand verfehlte das Ziel. Jetzt war die Reihe an dem Burschen. Der Mut hatte ihn verlassen. Selbst wenn er all sein Können zusammennahm, wie sollte er je ins Schwarze treffen?

In diesem Augenblick zogen über ihm zwei Greifvögel hin¬weg. Kaum hatte er sie wahrgenommen, als er seinen Bogen auf sie richtete, ihn anspannte und in dieser Stellung ver¬harrte. Die Männer um ihn schauten erwartungsvoll und wagten kaum zu atmen, damit sie genau beobachten konn¬ten, wie er die Greifvögel herabschoß. Doch der junge Bur¬sche ließ die Sehne nicht wieder los.

»Was soll das bedeuten? Steht nur da und schießt nicht!« Die Leute brachen in lautes Gelächter aus.

Der Schwiegervater verwunderte sich, trat dicht vor den Burschen und fragte, ihn heftig an den Arm stoßend: »Schläfst du?« Sogleich verließ der Pfeil die Sehne und stieg schwirrend in den Himmel empor. Einen Vogel traf er ge¬nau. Und als dieser auf die Erde herabgefallen war, steckte der Pfeil in seinen Augen. Die anderen Schützen staunten über alle Maßen.

Der Bursche jedoch fuhr zornig auf: »Eigentlich gedachte ich, beide Greifvögel mit einem Male zu treffen, sodaß es eine Freude gewesen wäre. Wegen meines Schwiegervaters schoß ich nur einen herab. Von nun an nehme ich nie wieder einen Bogen in die Hand.«

Vor den Augen der Leute zerbrach er den seinen und warf ihn fort.