Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Lotosblume und Trauerweide




Es war einmal in einem Tal ein Mädchen, das hieß Lotos¬blume.

Seine Mutter war schon früh gestorben, und weil es keine jüngeren Geschwister hatte, umsorgte es alleine seinen Va¬ter, mit dem es in aller Abgeschiedenheit lebte.

Dennoch war Lotosblume immer fröhlich und lachte, wäh¬rend sie die Hausarbeiten verrichtete. Da sie auch ein gutes Herz hatte, waren die beiden sehr glücklich.

An einem dieser schönen Tage brachte der Vater eine neue Mutter mit nach Hause. Auch ihr folgte die Tochter gerne und führte das ihr Aufgetragene fleißig und gewissenhaft aus. Wegen ihrer Schönheit war Lotosblume in aller Leute Munde. Aber seitdem die neue Mutter eine Tochter gebo¬ren hatte, begann sie Abneigung gegen Lotosblume zu emp¬finden, aus der schließlich Haß wurde. Wenn der Vater es nicht sah, zwang sie das Mädchen nur zu harter Arbeit und schalt sie auch oft.

Lotosblume war zwar von klein auf an Arbeit gewöhnt, jetzt mußte sie sich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht pla¬gen, ohne sich nur einen Augenblick ausruhen zu können.

Still ertrug Lotosblume ihre Last und tat, wie es ihre neue Mutter von ihr verlangte. Sie putzte das ganze Haus, berei¬tete das Essen, spülte das Geschirr und wusch die Wäsche. Eifrig erledigte sie alles. Doch wenn sie auch nur für eine kleine Weile Atem holte, zankte sie die neue Mutter aus.

»So ein großes Mädchen darf nicht nur spielen! Bist du im Haus mit allem fertig, mußt du nicht dann noch das Bohnen¬feld jäten?«

Also hackte Lotosblume Unkraut auf dem Bohnen- und Gerstenfeld, dem Hirse- und Baumwollacker und sogar in den Kohlbeeten. Unbarmherzig brannte die Sonne dabei auf sie herab, und wenn sie sich bei der schwülen Sommer¬hitze in den Schatten eines Baumes setzen und nur ein wenig rasten wollte, stand unversehens ihre Stiefmutter vor ihr und schimpfte: »Sind die Felder alle von Unkraut befreit, mußt du von dem Steinacker am Berg noch die Steine absammeln. Du denkst doch nur immer ans Vergnügen.«

Das Auflesen der Steine bedeutete selbst für die erwachse¬nen Männer eine große Anstrengung. Lotosblumes Hände bluteten. Dennoch durfte sie nicht innehalten. Und am Abend spielte sie nicht etwa mit Freundinnen, sondern sie hatte zu flicken. Gab es auch einmal gar nichts zu nähen, so mußte sie doch im Winter die Sommerkleider waschen und ausbessern.

Nur wenn Lotosblume alle Arbeiten im Haus und draußen auf den Feldern besorgt hatte, trat Ruhe ein. Aber nicht einmal da war es ihr vergönnt, sich vor den Spiegel zu stellen und ihr Haar zu kämmen, denn sogleich spottete die Stief¬mutter: »Du kleines Mädchen fängst ja schon früh an, dich herauszuputzen! Was strählst du dir deine Haare derartig?« Sie riß ihr den Kamm aus der Hand und warf ihn fort.

War Lotosblume völlig erschöpft und traurig, so dachte sie an ihre tote Mutter und weinte stille Tränen. Wenn ihr Vater seiner Frau sagte, sie dürfe Lotosblume nicht zu schwere Arbeiten aufbürden, dann ging sie auf ihn los und keifte: »Nur immer sie nehmt Ihr in Schutz. Drum gehorcht sie mir auch nicht und benimmt sich frech.«

Deswegen gab Lotosblume stets acht, daß dem Vater solche Schmerzen erspart blieben.

Es war in einem kalten Winter, alles lag unter einer dicken, weißen Schneedecke, als die Stiefmutter Lotosblume nach draußen schickte, um Kiefernpilze zu sammeln.

Pilze wuchsen ja sommers während der Regenzeit in den Bergen. Wo aber gibt es sie denn mitten im Winter bei so hohem Schnee? Allein die Stiefmutter hatte dem Mädchen absichtlich befohlen, Pilze suchen zu gehen, weil sie es näm-lich nicht spielen lassen wollte.

Notgedrungen nahm Lotosblume den Korb und stieg in die Berge hinauf. Den ganzen Tag stapfte sie durch den Schnee. Es war ihr bitter kalt, denn sie trug kein wattegefüttertes Kleid. Dennoch schob sie mit ihren Händen, die sie immer wieder anhauchte, den Schnee zur Seite und suchte unter den Kiefernbaumstümpfen sowie auf der hartgefrorenen Erde. Nirgends aber waren Kiefernpilze zu finden.

Früh dämmerte der Abend.

Wenn sie mit leeren Händen zurückkam, war ihr zwar Schelte gewiß, doch hatte sie keine andere Wahl, als sich auf den Heimweg zu begeben.

Wie erschrak sie aber! Ohne daß sie es gemerkt hatte, war sie zu tief in den Wald gedrungen, hatte den Weg verloren und sich verirrt. Die Täler lagen tief verschneit, eines sah so aus wie das andere. Welches, in aller Welt, sollte sie hinab¬steigen, um in das Dorf zu gelangen? Nicht einmal die Rich¬tung wußte sie mehr.

Es wurde Nacht.

Kein einziger Feuerschein leuchtete zu ihr. Nur die Schreie der wilden Tiere waren zu hören. Lotosblume fürchtete sich sehr. Hier draußen wäre sie schon mit einem Winkel zufrie¬den gewesen, in dem es weniger kalt und sie vor den Tieren geschützt war.

Lotosblume entdeckte eine große Felsspalte, in die sie sich kauerte. An dieser Stelle blies der Wind deutlich schwächer. Und weil sie den ganzen Tag über ihren frierenden Körper mit beiden Händen gerieben hatte, wurde es ihr mit einem Male doch ein wenig warm.

Eine kleine Weile später ging der Mond auf. Lotosblume blickte zu ihm empor. Der runde Mond war so klar, lieb und mild wie das Gesicht ihrer toten Mutter. Es schien, als schaute ihr Gesicht aus dem Mond. Tränen sammelten sich in Lotosblumes Augen, die sie weit geöffnet hatte.

»Mutter!« rief sie.

Doch da ertönte statt der Antwort der Mutter ein gräßliches Knurren. Lotosblume zuckte zusammen. Ein großer Wolf, der seine weißen Zähne fletschte, starrte sie an.

Lotosblume befand sich in einer ausweglosen Lage, denn entfliehen konnte sie nicht. Sie hockte sich einen Schritt rückwärts, worauf indes der Wolf einen vortrat. Jedesmal, wenn sie nach hinten auswich, folgte ihr der Wolf, Schritt für Schritt. So gelangte sie bis ans Ende des Felsspaltes, wo sie dem Wolf schutzlos preisgegeben war.

In diesem Augenblick jedoch geschah etwas sehr Sonderba¬res. Der Spalt tat sich gleich einer Tür auf. Ohne langes Be¬sinnen sprang Lotosblume durch dieses steinerne Tor.

Welch ein überraschender Anblick bot sich ihr da!

Hinter dem steinernen Tor wölbte sich eine hohe, weite Höhle. Wunderschöne Blumen hatten sich zu voller Blüte entfaltet, als freuten sie sich über die Ankunft des Mäd¬chens. Kleine und große Vögel, die ihr ganz unbekannt wa¬ren, flogen zwitschernd um Lotosblume herum. Und zwi¬schen den Blumenbeeten flossen drei Bächlein mit weißem, rotem oder blauem Wasser, das in einen kleinen Teich mündete. Dahinter stand ein aus Weiden geflochtenes Häuschen.

Lotosblume war von alledem so überrascht, daß sie stau¬nend dastand.

Alsbald öffnete sich die Tür des Häuschens und ein Junge mit edlen Gesichtszügen trat heraus, um Lotosblume her¬einzubitten. »Ich heiße Weidenjunge«, hub er an. »Was hat Euch, junges Fräulein, bis hierher geführt?« fragte er.

»Ich bin Lotosblume und wohne am Fuße des Berges. Weil die Mutter Kiefernpilze essen wollte, ging ich welche su¬chen. Dabei kam ich aber vom Wege ab, und ein wildes Tier bedrohte mich. So gelangte ich an diesen Ort. - Bitte ver¬zeiht mir, daß ich Euch in so später Nacht störe«, antwortete Lotosblume artig.

»Ihr seid wirklich zu bedauern. Indessen, sorgt Euch nicht. Ruht getrost aus und macht Euch dann wieder auf den Weg.«

Der Junge stellte Speisen und Getränke vor Lotosblume und forderte sie auf, zu essen. »Es war grimmig kalt, Ihr werdet Hunger haben. Stillt ihn zuerst und legt Euch dann schlafen. Währenddessen will ich Pilze suchen.«

Lotosblume wollte aus Bescheidenheit zwar ablehnen, be¬vor sie aber sprechen konnte, hatte der Junge das Haus schon verlassen. Das Mädchen zögerte eine Weile, dann griff es doch zu den Eßstäbchen. In der Tat hatte Lotos¬blume bei dem langen Suchen im Schnee gefroren und ge¬hungert. Und so ließ sie sich alles mit dankbarem Herzen schmecken.

Sie hatte den ganzen Tag vor Kälte gezittert und als sie dar¬auf nun die warmen Speisen verzehrt hatte, wollten ihre Au¬gen vor Ermüdung zufallen. Sie war sehr dankbar, daß sie im Hause eines Menschen, den sie zum ersten Male sah, zu es¬sen bekam, und es tat ihr wegen der Umstände leid, doch hier sogar zu ruhen, schämte sie sich. Lotosblume zwang sich, wach zu bleiben, aber ehe sie sich’s versah, wurde sie vom Schlaf übermannt.

Nach einer Weile fuhr sie erschrocken wieder auf. Neben ihr stand der Korb, bis an den Rand mit Pilzen gefüllt.

Der Junge goß draußen die Blumen. Freundlich lachte er ihr zu und teilte folgendes mit: »Ihr dürft niemandem erzählen, daß Ihr hier wart. Wenn Ihr wiederkommt, so sprecht drau¬ßen vor dem Steintor >Weidenbaumherr, Lotosblume ist ge¬kommen. Laßt mich bitte ein.< Sogleich wird sich die Tür von selbst öffnen.«

»Danke. Ich danke Euch von ganzem Herzen.«

Mit strahlendem Gesicht grüßte ihn Lotosblume.

Als sie das Steintor erreicht hatten, übergab der Junge ihr noch drei Fläschchen mit den Worten: »Tragt diese Arznei¬flaschen stets bei Euch. Die Arznei in der weißen Flasche bringt das Fleisch auf die Knochen, die Arznei in der roten Flasche schafft Blut in das Fleisch und schließlich die Arz¬nei, die in der blauen Flasche enthalten ist, erweckt den Atem gestorbener Menschen.«

Lotosblume verbeugte sich mehrere Male dankbar und trat dann durch das steinerne Tor nach draußen. Hier lag die Welt in morgendlichem Dämmerlicht.

Die Stiefmutter verwunderte sich sehr, als Lotosblume Pilze aus dem Schnee mitbrachte. »Wo hast du diese frischen Pilze gefunden?« fragte sie wiederholt. Lotosblume aber hielt sich an die Worte des Jungen und antwortete nicht.

So sehr die Stiefmutter auch in sie drang, Lotosblume blieb still. Darum befahl sie dem Mädchen erneut, Pilze zu su¬chen. Heimlich folgte sie ihm jedoch und beobachtete es.

Ahnungslos stellte sich Lotosblume vor das steinerne Tor und sprach: »Weidenbaumherr, Lotosblume ist gekommen. Laßt mich bitte ein.«

Und alsbald tat sich das steinerne Tor auf. Freudig kam ihr der Junge entgegen. Und wie ehedem füllte er ihr den Korb mit Kiefernpilzen.

Die Stiefmutter kehrte vor Lotosblume nach Hause und er-wartete sie dort. »Du unverschämtes Ding! Geht so ein klei¬nes Mädchen schon aus, um sich mit einem Burschen zu tref¬fen! Du wähnst mich wohl unwissend, wenn du mir nichts er¬zählst und glaubst, Unrechtes tun zu können?«

Indem sie polterte und tobte, kniff und schlug sie Lotosblu¬me. Darauf fesselte sie das Mädchen fest an einen Balken und verließ das Haus. Erst eine lange Zeit später kam sie zu¬rück. Sie stellte sich vor Lotosblume und durchbohrte sie mit grausamen Blicken.

»Auch in diesem kalten Winter hast du ja schöne Pilze ge-funden. Nun geh und hole noch welche. Falls du aber keine mitbringst, dann wehe dir!«

Mit diesen Worten band sie Lotosblume los.

Rasch pochte Lotosblumes Herz, denn sie fühlte, daß etwas Schreckliches geschehen war. Angsterfüllt eilte sie den Berg hinauf. Sie gelangte vor das steinerne Tor und rief mit zit¬ternder Stimme: »Weidenbaumherr, Lotosblume ist ge¬kommen. Laßt mich bitte ein.«

Das Tor allerdings rührte sich nicht.

»Bestimmt ist ihm etwas zugestoßen!« dachte sie und gab alle Hoffnung auf. Mit tränenerstickter Stimme wiederholte sie einige Male ihren Spruch, doch das Tor blieb verschlos¬sen. Deswegen bot sie all ihre Kräfte auf, um den Stein am Eingang zur Seite zu schieben. Dann trat sie ein.

Aber o weh! Welch trostlosem Anblick stand sie gegenüber? Die Blumenbeete und die Bächlein waren mitleidlos zertre¬ten worden und anstelle des Weidenhäuschens sah sie nur einen Haufen Asche. Daneben lagen zerstreut die Knochen des Jungen, der im Feuer verbrannt war.

Lotosblume bebte vor innerem Schmerz und ohnmächtigem Zorn. Sie warf sich zu Boden und weinte bitterlich. Die Trä¬nen stürzten ihr aus den Augen.

Nach einer geraumen Weile erinnerte sich Lotosblume an die drei Fläschchen, die sie von dem Jungen erhalten hatte. »Ach, wenn ich die Arzneien benutze, so wird alles wieder gut werden!«

Nun begann sie die Knochen aus der Asche zu klauben. Zwi-schen den Rippen entdeckte sie das kleine Messer, das die Stiefmutter immer bei sich getragen hatte. Lotosblume warf es weit weg. Nachdem das Mädchen alle Knochen sorgfältig aufgelesen hatte, fügte es sie in der richtigen Ordnung an-einander. Dann bestrich es sie mit der Arznei aus der weißen Flasche. Und siehe da, als die Knochen wieder Fleisch be¬kamen, nahm alles die Gestalt des Jungen an, dem es Tage zuvor begegnet war.

Lotosblume rieb in das Fleisch die Medizin der roten Fla¬sche. Erwartungsgemäß gewann die kalte, weiße Haut ihre natürliche Farbe zurück, und der Puls setzte ein. Kaum träu¬felte sie danach ein wenig Arznei aus der blauen Flasche, als sich der Junge in aller Ruhe erhob, wie wenn er nur geschla¬fen hätte.

»Wahrhaftig, Ihr lebt!«

Lotosblume war so glücklich, daß sie die Hände des Jungen faßte und vor Freude hüpfte.

Der Junge schaute der weinenden Lotosblume ins Gesicht und sagte mit seinem früheren strahlenden Lächeln: »Lo-tosblumenfräulein, ich bin von Eurer Mutter mit der Er¬laubnis des Himmelsherrn geschickt worden, um Euch zu retten. - So, und nun laßt uns zusammen ins Himmelreich gehen. Es ist nämlich bestimmt, daß wir vor dem Himmels¬herrn und Eurer Mutter Mann und Frau werden.«

Alsbald senkte sich vom Himmel eine Regenbogenbrücke herab, die sich bis zu dem kleinen Teich erstreckte. Die bei¬den betraten den Regenbogen und stiegen in die bunten Wolken hinauf.

Auf dem Teich aber, an dem das Mädchen gestanden hatte, schwamm eine Lotosblume, und am Ufer stand ein Weiden-baum, mit lang herabhängenden Zweigen.