Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Iomi und Tschiomi




Es war einmal irgendwo eine sehr liebe Mutter mit ihrem Sohn. Lebten sie auch in Armut, so waren sie doch überaus ordentlich und zufrieden.

Die Mutter verkaufte Reiskuchen, und der Sohn besuchte die Schule im Dorf. Wenn er allerdings zur Schule wollte, so mußte er jedesmal um einen kleinen Lotosteich gehen. Weil ihn aber kein Freund begleitete, und er immer alleine war, hatte er sich angewöhnt, sein Spiegelbild im Wasser zu betrachten. Als ihn eines Tages gerade wieder sein Weg um den Lotosteich führte, da erblickte er eine Schlange, die mit dem Schwanze rudernd durch den Teich auf ihn zugeschwommen kam. Der Junge gab ihr zum Spaß etwas Reis von seinem Mittagessen ab. Die Schlange ließ sich den Reis sehr gut schmecken. Auch in der folgenden Zeit fütterte er sie jedesmal, wenn er sich zur Schule begab, mit einem Löffel Reis. Einen Monat später war die Schlange unsäglich groß. Merkwürdig war indessen, daß sie wie ein Mensch sprach und die Worte verstand.

»Hör mal! Ich bin Iomi. Wie wär’s, wenn ich dich Tschiomi nenne?« fragte der Junge.

»Ja, auch ich finde das gut. Und ich würde mich freuen, wenn du mich als deine jüngere Schwester ansähest.«

»Gut, dann sage zu mir älterer Bruder.«

Also wurde die Schlange Iomis jüngere Schwester und dieser für sie ihr älterer Bruder.

Aber Tschiomi wuchs von Tag zu Tag. Weil sie nun eine volle Schale essen mußte, kam Iomi nicht umhin, ihr sein ganzes Mittagsmahl zu überlassen. Tschiomi wurde, jeden Tag wachsend, schließlich so dick wie eine Säule. Iomi hingegen magerte derart ab, daß er bald einem getrockneten Fische glich. Dennoch schenkte er ihr getreulich seinen Reis.

Eines Tages jedoch ließ sich Tschiomi nicht sehen. Iomi wartete einige Tage am Ufer des Teiches auf sie, ohne daß sie kam. Dann rief er endlich nach ihr: »Tschiomi, Tschiomi!« Nach einer geraumen Weile rauschte das Wasser, und Tschiomi tauchte auf. »Älterer Bruder, warum rufst du so besorgt nach mir?«

»Wo warst du in der letzten Zeit, du hast dich ja überhaupt nicht sehen lassen?«

»Ich bin für kurze Zeit im Himmel gewesen.«

»Wirklich? Das wußte ich nicht... Ich bin heute gekommen, um dir etwas zu sagen: Morgen werde ich heiraten. Weil ich dir daher wohl für ein paar Tage nichts zu essen geben kann, habe ich dir alles auf einmal mitgebracht, teile es dir ein!«

Nachdem Iomi das zu Tschiomi gesagt hatte, kehrte er nach Hause zurück.

Tschiomi indessen war ein Drache geworden, und Drachen können in das Himmelsreich fliegen. Seit ihrer Rückkehr von dort hatte sie, wie auch die Geister, Kenntnis von den Dingen auf der Erde und konnte in die Zukunft schauen. Tschiomi sah eine Gefahr voraus, in der Iomi an seinem Hochzeitstage schwebte: ein Bösewicht wollte ihn in der Hochzeitsnacht töten. Sie folgte ihm darum an jenem Tage und versteckte sich unbemerkt unter der Veranda.

Iomi, gänzlich ahnungslos, schlief fest im Zimmer seiner jungen Frau. Es war schon tiefe Nacht. Kaum war die dünne Mondsichel hinter den westlichen Bergen verschwunden, als ein junger Mann im Schutze der Dunkelheit auftauchte, in dessen Hand ein Messer blitzte. Er liebte insgeheim das Mädchen, das Iomi geheiratet hatte. Als er die Tür öffnen wollte, schnellte die Schlange vor und fraß ihn mit Haut und Haaren.

Am nächsten Tag ging Iomi, vom Hause seiner Braut zurückkehrend, am Lotosteich vorbei. Da spie die Schlange den Mann mit dem Messer aus und erzählte Iomi, was sich zugetragen hatte. Inbrünstig umarmte er Tschiomi, denn er erkannte, daß er dank ihrer der Gefahr entronnen war. Auch Tschiomi war tief gerührt bei dem Gedanken, daß sie Iomis Wohltaten ein wenig hatte erwidern können.

Später zog Tschiomi, die in dem kleinen Teich nicht mehr wohnen konnte, in eine Furt des Flusses um, der durch die Hauptstadt floß.

Jedesmal, wenn nun dort Reis, der vom Land hergebracht wurde, hinübergeschafft werden sollte, nahm Tschiomi diesen weg. So kam es, daß nach einem Jahr die Menschen in der Stadt nichts mehr zu essen besaßen und in Not gerieten.

Da nun zu jener Zeit ein König in dem Lande herrschte, der ein schwarzes Herz hatte, hieß es, dies sei eine Strafe des Himmels. Der König aber forschte nach der Ursache und brachte in Erfahrung, daß die Schlange, die Iomi aufgezogen hatte, dahintersteckte. Er befahl, Iomi auf der Stelle herbeizuschaffen. Iomi, der von den Menschen seines Dorfes sehr geachtet wurde, kam als Gefangener in die Hauptstadt und war, so unerwartet vor den König geführt, starr vor Schreck. Er sollte hingerichtet werden, weil er einige Jahre lang die Schlange gefüttert hatte. Deshalb ging er zur Furt und rief nach Tschiomi.

»Älterer Bruder, warum ist deine Stimme so angsterfüllt?«

»Weshalb stürzt du uns in solches Unglück? Der König sagte, er würde mich töten, wenn ich dich nicht finge. Was sollen wir tun?«

»Älterer Bruder, sorge dich nicht! Wenn du meinen Körper jeweils nach drei Fuß und drei Zoll abschneidest, dann werden es genau drei gleiche Stücke. Zerteile mich ohne Zögern und reiche mich dann so dem König dar.«

»Ach, Tschiomi, könnte ich das übers Herz bringen? Lieber sterbe doch ich.«

»Älterer Bruder, sei ganz unbekümmert und mache nur so, wie ich dir sagte.«

Also schnitt er Tschiomi in Stücke, lud sie auf einen Pferdewagen und übergab sie dem König, der noch nie eine so riesige Schlange gesehen hatte und sich sehr wunderte.

»Versucht sie einmal so zusammenzulegen, wie sie vorher war!« befahl er.

Als die Diener die Teile des Schlangenleibes aneinanderfügten, verdunkelte sich der Himmel plötzlich durch eine pechschwarze Wolke, und der Nebel war so dicht, daß man selbst die Menschen neben sich nicht erkennen konnte. Eilig verschlang Tschiomi den König und war auch schon im Schutze der Wolke irgendwohin verschwunden. Zum neuen König wurde der rechtschaffene Iomi gewählt. Aber es bedrückte ihn sehr, daß das Volk noch immer nichts zu essen hatte. Er ging wieder an die Furt und rief nach Tschiomi. Sie antwortete: »Älterer Bruder, es war mir bisher unmöglich, in den Himmel zu gehen, weil ich dir deine Güte nicht danken konnte. Nun jedoch ist es mir vergönnt. Da ich mit dem heutigen Tage dort oben im Himmelreich weile, wo ich nichts zu essen brauche, nimm das Korn vom Grunde des Flusses und verteile es unter das Volk.« Und ruhig stieg die Schlange auf einer Wolke zum Himmel hinauf.

Iomi holte das Korn aus dem Flusse und gab es dem Volk. Er regierte gut und lebte noch lange, lange Jahre.