Es war einmal ein Salzhändler. Eines Tages führte er seinen Esel am Zügel und lenkte seine Schritte in ein Tal, um dort Salz zu verkaufen. Soweit er jedoch ging, es gab nur Berge. Er, der Fremde, hatte bestimmt einen falschen Weg eingeschlagen. Die Sonne sank, und da es dunkel wurde, suchte er nach einem Haus, in dem er ruhen konnte. Nirgends aber war in dieser Gegend eines zu finden. Also stolperte er noch eine Zeitlang auf dem finsteren Wege weiter. Da entdeckte er in der Ferne den Schein eines Feuers. Er ging darauf zu und kam an eine Hütte, wo er nun für eine Nacht um ein Lager bat. Als der Hausherr heraustrat und ihn sah, nahm dieser ihn freundlich auf. Der Salzhändler hob das Salz vom Rücken des Esels herab, löste die Glocke vom Halse des Tieres und betrat mit ihr das Zimmer. Der Hausherr setzte ihm ein Abendessen vor und fragte dabei, indem er auf die Glocke wies, was dies sei. Der Hausherr aber war in Wirklichkeit kein Mensch, sondern ein hundert Jahre alter Tiger, der nur die Gestalt eines Menschen angenommen hatte. Es war ein böser Tiger, der hier hauste. Kamen Wanderer zu ihm, so überfiel er sie im Schlaf und fraß sie auf. Der Salzhändler indessen war von Natur überaus gewitzt und erwiderte: »Das ist ein Kling-Klang-Vögelchen. Wenn mich in der Nacht wilde Tiere fressen wollen, dann stürzt sich der Vogel auf die Bestien und hackt ihnen die Eingeweide heraus. Aber in dieser Gegend gibt es doch wohl keine Tiere, die Menschen fressen, oder?«
Dem Hausherrn kamen bei diesen Worten so mancherlei Bedenken, und er antwortete. »Solche Tiere leben hier nicht. Drum verwahrt das Kling-Klang-Vögelchen gut, damit es nicht fortfliegt.«
An jenem Tag konnte der Salzhändler, obwohl es schon tiefe Nacht war, lange nicht einschlafen. Der Hausherr seinerseits war wach, weil er Angst hatte, daß das Kling-Klang-Vögelchen zu ihm fliegen und sein Gedärm herauspicken könnte. Als es jedoch noch später wurde, fielen ihm im Sitzen die Augen zu, er neigte sich zur Seite und sank in festen Schlaf.
Als ihn da der Salzhändler verstohlen betrachtete, sah er, daß die Beine und der Schwanz eines Tigers zum Vorschein gekommen waren. Der Salzhändler hatte bereits davon gehört, daß, wenn Fuchs oder Tiger sich verwandelten, sie am Tage den Menschen aufs Haar glichen, beim Schlafen hingegen Hinterbeine und Schwanz ihr wahres Wesen verrieten. Sofort hellwach, band der Händler geschwind die Glocke fest um den Leib des Tigers, stieß ihn dann heftig gegen die Schulter und rief mit lauter Stimme: »Hallo, das Kling-Klang-Vögelchen ist irgendwann aus meiner Hand geflogen!«
Der Tiger, der diese Worte vernahm, fuhr mit einem Ruck auf. Da ertönte die Glocke an seinem Bauch. Er glaubte natürlich, daß das Kling-Klang-Vögelchen an ihm hinge, um seine Eingeweide zu fressen. Angst stieg in ihm auf, schnell sprang er auf die Diele. Trotzdem war der Kling-Klang-Vogel zu hören, und weil er ihm offenbar folgte, bekam es der Tiger noch mehr mit der Angst zu tun. Ohne sich umzu¬schauen, stürmte er davon. Indessen blieb der vermeintliche Vogel ihm nach wie vor auf den Fersen. Kopflos rannte er durch ein Dornengestrüpp. Dabei blieb die Glocke an einem Dorn hängen und fiel herab. Gleichwohl lief der Tiger wie toll weiter, aus Furcht, der Vogel könne ihm nachsetzen.
Ein Weilchen später begegnete ihm ein Hase. »Onkel Tiger, warum seid Ihr denn so in Eile?«
»Ein böses Tier, das Kling-Klang-Vögelchen heißt, ist hinter mir her und will meine Därme herausreißen und fressen. Es hat mich die ganze Zeit gehetzt und ist schließlich dort im Gestrüpp zurückgeblieben. Doch da es mich wohl weiter jagen wird, suche ich jetzt das Weite.«
Der Hase hatte bislang noch nie etwas von einem Kling-Klang-Vögelchen gehört, und er fragte sich, wie es wohl aussähe, daß es den Tiger dermaßen ängstigen konnte. Darum schlug er vor, es einmal in Augenschein zu nehmen.
»Was? Diesen grausamen Vogel ansehen? Wenn du das willst, dann geh alleine!«
»Onkel Tiger, gibt es irgendwo auf der Welt jemanden, der noch furchterregender wäre, als Ihr es seid? Spricht man nicht seit uralten Zeiten von dem König der Berge? Wie auch immer, Ihr müßt Euch täuschen, kommt also getrost mit mir.«
Indem der Hase ihn in dieser Weise ermunterte und aner¬kannte, wollte der Tiger den Kling-Klang-Vogel doch auch einmal genauer betrachten und ging gemeinsam mit dem Hasen zum Dornengestrüpp. Dort stieß er aber zufällig mit dem Fuß an das Geäst, so daß es sich bewegte, und auch die Glocke erklang.
»O weh, der Kling-Klang-Vogel will schon wieder zupakken!« Der Tiger stieß vor Schreck einen Schrei aus, riß den Hasen an sich und ergriff mit ihm die Flucht. Der Hase wußte nicht, wie ihm geschah. Doch noch während ihn der Tiger fest unter dem Arm hielt, blieb er am Stachel eines Baumes hängen. Und weil der Tiger so schnell lief, schnitt der Stachel den Bauch des Hasen auf. Das Eingeweide trat heraus, und am Ende mußte er sein Leben lassen.
Es verging erst einige Zeit, ehe der Tiger merkte, daß der Hase tot war.
»Du wolltest unbedingt gehen, obwohl ich dich warnte. Nun hat der Vogel dir dein Herz herausgeholt, und du bist gestorben.«
Der Tiger beklagte den Tod des unglücklichen Hasen und zog sich noch tiefer in die Berge zurück.