Im zweiten Jahre Sinu’s von Koryo[24] lebte der General Tsch’ö Yongi, der im Auftrage des Königs das Reich T’amna — so hieß früher das Fürstentum von Tschedschu — einnehmen sollte. Rings um die Hauptstadt mit gleichem Namen war eine starke Mauer aus Dorngestrüpp errichtet; es war daher äußerst schwierig, in die Stadt einzudringen.
Eines Tages ging der General bis nahe an die Mauer heran, um einen Weg ausfindig zu machen. Hier nun begegnete er einem alten Koreaner, der mit einem schwarzen Ochsen sein Feld pflügte. Plötzlich hörte der General, wie der Bauer den störrischen Ochsen beschimpfte, indem er sprach: »Du bist gerade so dumm wie Tsch’ö Yongi.«
Der General wunderte sich, ging zu dem Bauern und fing ein Gespräch mit ihm an. Bald merkte er aus seinen Reden, daß der Alte ein Hellseher war, und er fragte kurz entschlossen, wie er es anfangen müsse, um die Festung bald in seine Hand zu bekommen.
Da antwortete der kluge Bauer: »Die Mauer aus Dorngestrüpp muß durch Feuer zerstört werden. Aber weil zwischen der Steinmauer und dem Gestrüpp kein Gras gewachsen ist, frißt das Feuer nicht weiter. Wird aber dort Grassamen ausgestreut, so ist es bis zum Sommer hochgewachsen und bis zum Herbst verdorrt; dann ist es leicht, Feuer anzulegen und die Steinmauer zu übersteigen.«
Der General dachte eine Weile nach. Der Plan schien ihm gut, doch wie man den Samen ausstreuen könnte, blieb ihm ein Rätsel.
Wieder trieb der Bauer den trägen Ochsen an: »Vorwärts, dummer Ochs, vorwärts!«
Tsch’ö Yongi vermutete mit Recht, daß er damit gemeint sei, nahm sich ein Herz und fragte weiter: »Sprich, wie sollen wir denn den Samen säen können?«
Der Bauer, der inzwischen bereits fortgefahren hatte, das Feld zu pflügen, hielt an und sagte geheimnisvoll: »Mache dir viele Papierdrachen, fülle eine Menge Grassamen in Papiertüten, befestige sie an den Drachen und lasse diese bei günstigem Winde steigen! Die Drachen werden sich an den Zweigen festhängen, die Dornen reißen die Tüten auf, der Same fällt heraus und der Wind wird die Samen unter das Gestrüpp verteilen.«
Nun war dem General mit einem Male alles klar. Er dankte dem Bauern, befolgte dessen Rat, ließ die Drachen steigen, brannte die spitzige Dornmauer im Herbst nieder, überkletterte die Steinmauer und eroberte so die Insel. Als er aber den findigen Bauern zu seinem Ratgeber ernennen wollte, konnte niemand ihn ausfindig machen.
Als der Sänger geendet hatte, klopften manche der Zuhörer auf ihre Knie und riefen Beifall. Sie hatten ihre Freude daran, daß einfache Bauern, wie sie, oft klüger sein können als Generäle und Gelehrte, die ihr ganzes Leben hindurch nur studieren und sich oft besser dünken als Ungelehrte. Im Tschangsu, obgleich selbst Großbauer, war aber mit der Schadenfreude seiner Landsleute nicht einverstanden, sondern sagte: »Wohl kommt es vor, daß auch der einfache Mann einen Gelehrten belehren und ihm aus seiner Erfahrung heraus einen Rat erteilen kann, im allgemeinen aber ist das Denken und Studieren ebenso wichtig wie die Arbeit der Hände und Füße. Freilich ist der Kopf am Körper des Menschen der höchste Teil, wo sich aber des Kopfes und der Hände Arbeit verbinden, da erst ist der Mensch vollkommen; darum soll der einfache Mann den Weisen hochschätzen, der Gelehrte aber den einfachen Mann nicht verachten.«
Im Tschangsu schwieg, und alle Anwesenden stimmten ihm bei, denn sie wußten, daß ihr Herr neben seiner Landwirtschaft viel studiert und manche Reisen gemacht hatte und verehrten ihn als ihren Vater und Lehrer.
Der blinde Sänger aber räusperte sich und begann also: »Die Sage von den drei Löchern und die andere von der listigen Einnahme von Tschedschu hat uns in den äußersten Süden unseres Tschoson-Reiches geführt; die Sage, die ich nun erzählen werde, führt uns in den höchsten Norden des Reiches, auf den hohen Päktusan[25]. Also hört!«