Die Kantaten Johann Sebastian Bachs zum Sonntag Jubilate by Axel Bergstedt - HTML preview

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Die Eingangschöre

Alle drei Kantaten haben einen Eingangschor. Die zuletzt angesprochene Kantate 103 bringt als Eingangschor einen Konzertsatz, der - bei fehlender Sinfonie - sozusagen gleichermaßen die Entsprechung zum Eingangssatz der Kantate 146 bildet. Die Grundtonart h-moll wirkt herb, ja melancholisch¹. Das Melancholische wird durch die durchsichtige Instrumentation in diesem h-moll-Satz bestärkt, wobei sich über Streichern und zwei Oboen d'amore die Flauto-Piccolo aus der Familie der Blockflöten erhebt.²

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¹ vergl. Kelletat, S. 108 f. Abweichend dazu schreibt Stephen Daw allerdings, dass h-moll für Bach eine Tonart tiefempfundener Freude sei. (Bach: The Chorale Works S. 164 f)

² Flauto Piccolo finden wir bei Bach in zwei ungewöhnlichen Eingangschören. Außer in Kantate 103 finden wir sie in Kantate 96 (Herr Christ, der einge Gottessohn), die zum 8. Oktober 1724 entstanden ist. Hier bildet sie vermutlich musikalisch das Flimmern des Morgensternes nach. In beiden Kantaten wurde flauto piccolo durch andere Instrumente bei späteren Aufführungen ersetzt, in unserem Falle 1731 durch Querflöte oder Violine, im Falle der Kantate 96 durch Violine Piccolo (Terzgeige), die Bach ebenfalls in seinem bekannten Violinkonzert in a-moll einsetzte. Ob technische Schwierigkeiten diesen Wechsel erzwangen, wissen wir leider nicht.

Obwohl beide Kantaten somit in zeitlicher Nähe entstanden sind, geht Thalheimer in seinem Beitrag im Bach-Jahrbuch 1966 davon aus, dass im Falle der Kantate 96 eine Flauto-Piccolo in f, in der Kantate 103 hingegen ein Flauto-Piccolo in d verwendet wurde. Beide Flöten sind abgebildet. Die um eine Terz höher notierte Flöte (der erste Ton Fis wurde z.B. als A notiert, wobei der französische Violinschlüssel, d.h. ein Violinschlüssel, der zwei Töne tiefer steht als gewöhnlich, notiert ist) hat den Umfang e' bis fis''' (notiert g' bis a''' ), wobei alles natürlich noch eine Oktave höher klingt. Thalheimer sieht in dem höchsten Ton nichts technisch Unmögliches, zumal er annimmt, dass es sich um Blockflöten mit enger Bohrung gehandelt hat, die leicht in den hohen Tönen ansprechen.

Andererseits ist auch die Piccoloblockföte in f denkbar, da die um eine kleine Terz höhere Notation schon durch die Tatsache bedingt war, dass Orgel und Streicher im Chorton standen, der gegenüber dem Kammerton einen Ganzton oder eine kleine Terz höher war. Für diese Blockflöte ist natürlich das tiefe e' schwierig, aber unter Zuhilfenahme des Knies auch ausführbar. Siehe hierzu auch Windkanal, The Forum for recorders

Die in ihrer Höhe verloren wirkende Flöte fällt allerdings nach eher klagend wirkendem langen Ton zu Beginn mit in die freudige Bewegung ein, die wir in ähnlicher Weise in anderen freudigen Sätzen bei Bach finden,¹ nur das sich eben alles in dem herben h-moll abspielt. Der Konzertsatz bekommt anstelle des zu erwartenden Couplets eine formvollendete vierstimmige Permutationfuge² eingebaut, die in der Einsatzreihenfolge der ebenso vollendeten Fuge "Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben" aus der 6. Kantate des Weihnachtsoratoriums entspricht. Doch während bei letzterer wie gewöhnlich die Orchestereinleitung motivisch dem Chorthema entspricht, arbeitet Bach in der Kantate 103 mit Gegensätzen. Der Chor drückt Trauer und Entsetzen aus, was kompositorisch klar gezeichnet ist. Nach drei Viertelnoten folgt eine Katabasis, in die noch dazu eine übermäßige Sekunde eingebaut ist, die erstens selbst charakterisierend ist und zweitens die vier Achtel der Katabasis in zweimal zwei zerlegt, welche wiederum wie Seufzer wirken. Es folgt eine wie ein Aufschrei aus der Tiefe der Verzweiflung wirkende Exclamatio, dann zwei weitere Seufzer und noch eine Exclamatio, bevor die nächste Stimme einsetzt. Diese dicht aneinandergesetzten Figuren bilden zudem noch dreimal eine Parrhesia Auch in den weiteren Kontrapunkten finden sich zahlreiche Figuren, die die Trauer ausdrücken. Nur die ersten drei Töne des Themas enthalten noch keine Figur, dafür setzt Bach aber in dem Takt in die Piccoloblockflöte eine chromatische Anabasis, der auch als Krebs oder als Umkehrung zum Beginn des 2. Kontrapunktes gesehen werden kann.

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¹ siehe z.B. den Schlusschoral der Kantate 167, der auch von Schweizer (S. 499) als Beispiel für Freude zitiert wird.

² Zur Permutationfuge s. Werner Neumann: J.S.Bachs Chorfuge, Leipzig 1938 (Aus: Schriftenreihe des staatlichen Instituts für deutsche Musikforschung), speziell S. 32 f.

³ Parrhesia, (griech. : Redefreiheit), Affekthaltige Figur, die etwas Ungestütztes, Haltloses unter Verwendung eines Tritonus