Die Schilderung des Leidens in den ersten Rezitativen und Arien
In der zuletzt besprochenen Kantate 12 folgt ein Arioso, das eigentlich im musikalischen Sinne ein Rezitativ ist, das nur wie z.B. die Christusworte der Matthäuspassion mit liegenden Streicherakkorden ausgearbeitet wurde. Wie bereits Dürr in den "Kantaten von J. S .Bach" S. 43, 44 schreibt, benutzt Bach im Frühjahr 1714 mehrfach in den uns erhaltenen Kantaten ein dergestaltiges Arioso. Anlass ist jeweils ein "Dictum", ein Bibelwort, das eben nicht wie später an erster Stelle der Kantate steht, sondern an zweiter Stelle und daher nicht vom Chor gesungen wird. Zu Palmarum hatte Bach in seiner Kantate 182 das Dictum als ein echtes Jesuswort gemäß alter, in den Passionen entwickelter Tradition, dem Bass gegeben; ebenso verfährt er Pfingsten 1714 mit "Wer mich 1iebet, der wird mein Wort halten" aus "Erschallet, ihr Lieder". Das Schlüsselwort aus der Apostelgeschichte, das in die Kantate 12 eingegangen ist, ist kein Jesuswort, sondern Wort eines seiner Nachfolger, es könnte ein jeder von uns sein, oder aber die Seele, die zu uns spricht. Bach übergibt es dem Alt.² Aus der Textanalyse und unserer Grafik heraus erwarten wir, dass die Traurigkeit schlichter ausfallen müsste als im Eingangschor. Tonart wird c-moll, was gegenüber f- moll diese These stützt. Der Solist gestaltet die Trübsal unter Verwendung affekthalti- ger Figuren wie Parrhesia und Katabasis. Dennoch schimmert deutlich das ferne Leuchten des indirekt in diesem Satz verheißenen Gottesreiches: Nach oben geführte Tonleitern zeigen diesen Weg Gottes: Einmal schwingt sich die Melodie von dem dritten und tiefsten Betrübnis, das musikalisch als verworrenes Schlamassel gezeichnet ist, plötzlich wunderbar als Tonleiter empor zum Reich Gottes. Dieses Emporheben aus dem tiefsten Elend ist natürlich besonders eindrucksvoll, wie wir es aus vielen Beispielen der Kunst angefangen von Märchen wie Sternentaler, wo ein armes, nacktes und völlig mittelloses, aber gutes Mädchen beschenkt wird bis hin zum Musical "Miss Saigon", wo eine Prostituierte (ebenfalls sehr jung und gut !) ihrem Elend entflieht, (was allerdings am Ende dann tragisch misslingt,) kennen. Wo so etwas vorgegeben wird,
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¹ Vergl. dazu u.a. Schweizer S. 75, Fußnote
Die Tatsache, dass das Jesus-Wort tiefer gesungen wird, finden wir bereits in den mittelalterlichen Lektionstönen.
² Eine noch viel weitergehende Identifikation des Leidenden mit dem gekreuzigten Jesus will Artur Hirsch in "Die Zahl im Kantatenwerk J.S. Bachs", S. 57 erkannt haben: Er meint, dass die in dem Arioso vorkommenden 39 verschiedenen Tonhöhen ein Symbol für die 39 Schläge sind, die Jesus im Laufe der Passion empfangen haben soll.
entzündet sich die Kunst daran,¹ (auch wenn das Thema oft schon banal ist und in Tausend Kitschromanen breitgetreten.) So wird auch das Emporheben in dieser großangelegten Tonleiter fast im Wagner'schen Sinne ausgestaltet. Angelangt bei unserem Vater im Himmel sind wir Christen in Takt 7, der mit seiner göttlichen Zahl "7" die Vollkommenheit bei Gott darstellt.
Dem Arioso folgt die Aria "Kreuz und Krone sind verbunden". Gemäß unserer Textanalyse erwarten wir kaum noch Darstellung von Traurigkeit, denn unter dem Hinweis, dass das Leiden (Kreuz) mit der Freude (Krone) verbunden ist, findet sich der Christ in allenfalls noch stillem Kummer ab. Bach bleibt in der Tonart c- moll, Affekte sind aber weniger zu finden. Die Corta² aus der das Thema gemacht ist, steht an anderen _______________________________________________________________
¹ Man verfolge zum Beispiel die Flut von sich in immer neuen Einzelheiten überbietenden Schriften und Erzählungen in ganz Europa nach der Errettung der zukünftigen Kaiserin Adelheid aus den malariaverseuchten Sümpfen von Mincio durch Otto den Großen im Jahre 951.
² Vergl. Arnold Schmitz: Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs. Mainz 1953
S. 30 schreibt er über die Figurae simplices nach Vogt: "Bei Vogt findet sich der Begriff der Figurae simplices. Gemeint sind die musikalischen Spielfiguren Corta, Groppo, Tirata, Circulus (nicht dasselbe wie die musikalisch-Rhetorische Figur der Circulatio, aber offenbar mit ihr verwandt)…
...Es ist ersichtlich, dass die Figurae simplices von den Verzierungen ausgegangen sind. Wichtig ist nun die Beobachtung Ungers: "Sind aber bei den meisten Theoretikern in der Regel diese Figurae simplices von den eigentlichen musikalisch-rheto- rischen Figuren streng getrennt, so finden wir bei Spieß eine eigenartige Vermengung aller Gattungen der Figuren". Spieß hat aber insofern nichts Absonderliches in die Figurenlehre hineingetragen, als auch die Figurae simplices Bedeutung für Affektausdruck und
Sinndeutung gewinnen konnten."
Schmitz unterscheidet nämlich grundsätzlich: (S. 31) "Grammatische Figuren wie oben beschrieben, wortausdeutende wie Anabasis (Ascensio), Katabasis