Die Einleitungssätze
Die Kantate BWV 12 beginnt mit einer Sinfonia, BWV 146 mit einem ausgedehnten Konzertsatz, während die Kantate 103 gleich mit dem groß angelegten Eingangschor anfängt. Alle drei Kantaten drücken die - wie nach Analyse des Textes schon erwartet - traurige Grundstimmung durch Wahl des Tongeschlechtes moll aus.
Am intensivsten geschieht dies im langsamen Adagio assai in f-moll der Kantate 12. Über dem Streichersatz erhebt sich die Oboe in einer klagenden, mit Diminutionen in 32tel Noten durchsetzten Weise. Beginnend mit der Quintlage auf f-moll steigt sie über eine Diminution eine große Terz hinauf zum Leitton, der den darunterliegenden g-moll- Akkord zum Sextakkord und damit zur Dominante macht. Der charakteristische Eindruck wird noch dadurch verschärft, dass die Diminution als aus 32tel Noten bestehendem Lauf zunächst weit über das Ziel hinausschießt und vom hohen As in einem verminderten Quartsprung hinab zum E springt. Dieser saltus duriusculus¹ erzeugt in Verbindung mit der Parrhesia, die durch den Tritonus zwischen Oboe und 1. Violine entsteht, ein aufgewühltes Gefühlsleben und zeigt uns gleich zu Beginn des Satzes die Tiefe des Schmerzes. In der Weise geht es das ganze Stück hindurch, harte Sprünge, noch dazu auf schwere Taktteile, plötzliches Abbrechen (Ellipse nach Bartel, S. 154) in Takt 3 und 6, der übergeordnete abwärtsgerichtete Stufengang (Katabasis) besonders ab Takt 6, dessen Wirkung noch durch Tiefalterierungen verstärkt wird, und schließlich als Höhepunkt vor der Halbzeit der Abgang in Zweierbindungen über einen verminderten Akkord in Takt 7.
Die Geigen bewegen sich in Sechzehnteln, die, obgleich zum Teil aufwärts geführt, Seufzer genannt werden können. ²
___________________________________________________
¹ saltus duriusculus, "böser“, harter Sprung aufwärts oder abwärts.
² Vergl. das Schmerz-Motiv im Choral "0 Lamm Gottes" für Orgel (Peters, Bd. V), welches Schweitzer ("J.S.Bach, S. 458, Die musikalische Sprache der Choräle) als "edle Klage" definiert; ferner den Eingangssatz zur Johannespassion, die Sopranarie der Trauerode "Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl", "0 Mensch, bewein dein Sünde groß" aus der Matthäus-Passion, der gleichfalls aufwärts geführte Sechzehntel kennt; u.a. Schweizer rechnet diese Sinfonia zu den Beispielen des "edlen Schmerzes" ( S . 498).
Der Effekt wird durch die Parallelführung der beiden Violinengruppen meist in Terzen noch verstärkt. Darunter liegen die Violen, die der damaligen Zeit entsprechend geteilt sind.¹ Die Violen bewegen sich im halben Tempo wiederum als die Geigen, also in Achteln, homophon und ohne Pause, wobei die jeweils zwei aufeinanderfolgenden identischen Achtel eine Zweierbindung eingehen. So ergibt sich wiederum eine schmerzliche und doch erhabene Bewegung, verwandt zum Beispiel dem großartigen Arioso "Am Abend, da es kühle war" aus der Matthäus-Passion. In der Kantate 105 "Herr, gehe nicht ins Gericht" bedeuten ebensolche Achtelbewegungen das "angstvolle Beben". (Schweizer, S .570) .
Der Bass markiert die Viertel, allerdings wechselt er immer um eine Viertelnote mit einer Viertelpause. Insgesamt sind es auf diese Weise genau 27 Viertelpausen. Wollte Bach, der ja der Zahlensymbolik zugetan war, damit den Bezug auf den dreieinigen Gott darstellen? Auch im tiefsten Schreien und Klagen der Not ist Gott da, wenn auch für uns unsichtbar und daher nicht durch Noten, sondern durch die Pausen beschrieben! Bach erstrebte die Erreichung der Zahl 27 oftmals mit allen Mitteln, wie man an der H- Moll Messe und anderen Beispielen sehen kann. (Bachs Leben erfüllte sich denkwürdiger Weise insofern, als er nach genau 27 Jahren Dienst als Thomaskantor heimging.)²
Der zweite Höhepunkt im drittletzten Takt ist äußerst gewagt, Bach erreicht den verminderten Dominantakkord in fast allen Stimmen in Sprüngen, besonders hart natürlich die kleine None aufwärts in der Oboe, die wie ein Ausruf (Exclamatio) des Schreckens ausfällt und in einer Fermate gehalten wird (wahrscheinlich original in Kadenz übergehend). Der Höhepunkt wird bereits einen Takt zuvor vorbereitet durch
_____________________________________________________________
¹ Vergl. so die Kantaten 182 und 172. Hierbei ist das Wort "teilen" gewissermaßen irreführend, da es nicht mit Teilung einer kleinen Bratschengruppe in einem Orchester getan ist, sondern die Verdoppelung der mitwirkenden Bratscher erfordert.
² Vergl. Tadeusz Ochlewski: Lustro Liczb, Warschau, 1968, S. 101:
"Jest moze dlatego nie tylko przypadkiem, ze on wszedl do kr6lestwa Bozego dokladnie po 27 lat swojej swietej pracy. Czaszami wiedzemi dzwiwieni, ze wiatr wieje tam, gdzie chce, i tylko slyszymi jego szum." (Es ist daher nicht nur Zufall, dass er in Gottes Reich genau nach 27 Jahren seines geheiligten Wirkens einging. Manchmal sehen wir staunend, dass der Wind dort weht, wo er will, und wir hören nur sein