Die Schlusschoräle
Im Schlusschoral wird noch einmal der ganze Sinn der Kantate zusammengefasst. Er ist das Gegenstück zum Bibelwort am Anfang, mit dem er gemeinsam hat, dass er nicht vom Textdichter selbst gedichtet worden ist, sondern als fremdes Zitat beigestellt wurde. Choräle werden überhaupt in mancher Beziehung wie ein Bibelwort behandelt. So haben Choralkantaten weiter kein Bibelwort und es gibt sogar Predigten über Lieder, anstatt über einen Bibelabschnitt. Angesichts der in manchen Kirchen selbstverständlichen Praxis, neben die Worte des Paulus, Petrus usw. aus der Bibel auch Worte der späteren Heiligen, Kirchenväter, Kirchengründer und Theologen zu stellen¹, ist dieses auch weiter nicht ungewöhnlich. Diese späteren Heiligen haben zwar (außer bei den Mormo- nen² und gewissen anderen Kirchen) nicht die gleiche Verbindlichkeit in ihren Schriften, doch sind sie entweder sanktioniert durch eine Heiligsprechung oder ihre Stellung (z.B. als Papst, der aufgrund seiner Unfehlbarkeit u.U. unumstößliche Gebote aussprechen darf), oder sie haben ein hohes Ansehen in gemeinsamer Tradition der Kirche wie Dietrich Bonhoeffer, so dass sie theologisch nicht umstritten sind. Dazu gehören auch die Lieder des Gesangbuches, obwohl man in Wirklichkeit natürlich durchaus nicht in jedem nur unanfechtbare Glaubensweisheiten findet.
Dennoch gibt es eine Schwierigkeit, die für das Bibelwort nicht besteht. Das Bibelwort wird sicherlich zunächst ausgewählt, und dann werden die freien Texte darauf zugeschnitten oder entwickeln sich von dort ausgehend. Die Choralstrophe aber muss gewählt werden, um die Kantate abzuschließen, es steht also in der Regel der Text bereits fest. So besteht die Schwierigkeit, etwas Passendes zu finden. Es kann sich dabei u.U. nur um eine gewisse Näherung handeln, oder es wird nur ein Teilaspekt im Choral wiedergegeben.
In der Kantate 12 ist der Choral natürlich sehr passend und setzt genau den Inhalt der beiden vorausgehenden Sätze fort. Der optimistische Charakter dieser Glaubensgewissheit ausdrückenden Melodie aus dem späten 17. Jahrhundert bleibt auch im Satz sehr homophon und fest. Nur bei dem Wort "väterlich" wird der Tenor mit abwärts geführten Achtel etwas anschmiegsam.
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¹ So ist es zum Beispiel durchaus möglich, dass in der katholischen Kirche ein Trauspruch von Ernesto Cardenal o.a. gewählt wird.
² Hier gilt das Prinzip, dass es nach wie vor Propheten gibt die den alten in nichts nachstehen und somit den absoluten Willen Gottes verkünden. Der Gründer der mormonischen Glaubensrichtung veröffentlichte z.B. das Buch Mormon, das den Mormonen als heilig wie die Bibel gilt.
Der positive, schöne Geist des Textes wird auch durch die dazugefügte Oberstimme, die auch von der Trompete gepielt werden kann, unterstrichen. Da Bach in dieser Kantate mit Zahlen spielen will, was die vorhergehenden Sätze mehr oder weniger deutlich, aber in ihrer Häufigkeit als Gesamtheit wohl den Zufall ausschließend, zeigen, bereitet ihm der Choral Schwierigkeiten, da die Taktzahl vorgegeben und höchstens durch grobe Eingriffe wie Änderung in einen 2/4 Takt o.a. in engen vorgegebenen Bahnen abzuändern ist.
Es bleibt als nächstes Mittel die Anzahl der Töne, wobei die des Soprans ebenfalls in etwa festliegt. (Sie kann nur durch Durchgänge und auskomponierte Verzierungen erhöht werden.) Die Gesamtzahl der Töne der vier Chorstimmen plus der freien Ober- stimme ergibt jedoch genug Variationsmöglichkeiten, zumal schon die Wahl einer (oder mehrerer) Oberstimmen die ungefähre Größenordnung bestimmt. So kommt Bach auf 224 Töne insgesamt, der Verdoppelung von 112, der Zahl für CHRISTUS (3 + 8 + 17 + 9 + 18 + 19 + 20 + 18).¹ Damit sind wir mit dem Schlusschoral bei Christus angekommen, wir sind Christus gefolgt (Bassarie), haben den festen Vorsatz gefasst, ihm treu zu sein (Tenorarie) und sind jetzt in seinen Armen angekommen, wobei Gott hier für Christus steht.²
Die 12 ist unter anderem auch eine Zahl der Kirche, da sie für die 12 Jünger oder die zwölf Apostel steht. Als solche ist sie im Eingangschor begegnet, wo diese geheiligten Christen das Kreuz ("das Zeichen Jesu") tragen. Schon dort erscheinen sie stellvertretend für alle wahren Christen, die ja alle das Zeichen Jesu tragen. Diese wahren Christen sind nun mit Gott verbunden, indem die 1 (= Gott) mit der 12 zur 112 verbunden wird. Eine wahrhaft starke Symbolik, die besonders auffällt, da ansonsten die Zahlensymbolik erst in Bachs Spätwerk ausgeprägt scheint. Mit ihr schließt diese beeindruckende Kantate.
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¹ Für diejenigen, die in der Materie neu sind, sei der Hinweis erlaubt, dass man I und J = 9 rechnet, K erhält 10 usw.
² Falls Bach bzw. Franck lieber statt "Gott" "Jesus" gehabt hätte, hätte er eben aus dem Grunde, dass er den Text nicht frei dichtet, sondern aus einer Choralsammlung auswählt, eben diesen Kompromiß eingehen müssen. Andererseits beweist die Tatsache, dass umgekehrt trotz des Bibelwortes mit "Gott" stets von Jesus Christus die Rede ist, dass Franck beide Begriffe synonym verwendet, wie es ja auch katholischem und evangelisch-lutherischem Dogma