Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DER MANN OHNE BEINE

 

In Tschongdschu wohnte einst ein Kaufmann, der häufig nach der Insel Tschedschu[45] reiste, um dort Waren einzukaufen.

Eines Tages, als er wieder dort in einem Geschäftshause am Meeresstrand weilte, sah er einen Mann ohne Beine, der sich mühsam am Bootsrand weiterschleppte, sich dann emporhob und in das Innere des Bootes fallen ließ.

Der Kaufmann hatte Mitleid mit ihm, trat näher und fragte: »Wie kommt es denn, älterer Bruder, daß du ohne Beine bist, wo hast du sie verloren?«

Der Alte erwiderte: »Bei einem Schiffbruch habe ich sie verloren. Ein großer Hai biß mir damals beide Beine ab.«

»Wie ist das zugegangen?« fragte der Kaufmann weiter.

Der Alte erzählte: »Während einer längeren Fahrt überraschte uns ein Sturm und wir trieben von einer Insel zur andern. Plötzlich befand sich unser Boot vor einer Insel im Ostmeere. Auf ihr stand eine große Burg mit hohem Eingangstor, wie solche heute noch in Wäkuk[46] sich finden. Wir waren insgesamt etwa zwanzig Kameraden. Im Kampf mit dem Sturm waren wir elend mitgenommen, hatten starken Hunger gelitten und es fror uns schrecklich. Daher beschlossen wir zu landen und zusammen in die Burg zu gehen. Im Innern dieses gewaltigen Baues lebte aber nur ein Mann, ein Riese von furchtbarem Aussehen, mit schwarzem Gesicht und rollenden großen Augen. Seine Stimme war wie das Geschrei eines Esels, seine Brust war ungeheuer kräftig wie die eines Stieres, und seine Hände waren wie Fangarme.

Wir zeigten dem Riesen an, daß wir hungrig wären und etwas zu essen haben wollten. Der Riese gab keine Antwort; statt dessen ging er zur Türe, schloß diese fest ab, holte einen Arm voll Holz, warf es in die Mitte des Wohnraums und machte Feuer. Kaum brannte das Holz, so streckte er seinen Arm nach uns aus und ergriff einen der Unsrigen, einen jungen Mann, briet ihn vor unseren Augen, riß ihn in Stücke und verzehrte ihn. Wir alle waren starr vor Schrecken; keiner wagte ein Wort zu sagen, und niemand wußte, was er tun solle. Hilflos blickten wir einander an.

Als er sich vollgegessen hatte, ging er auf den Vorbau, öffnete einen dicken Krug und trank etwas wie Branntwein. Dann legte er sich hin und stieß schreckliche Laute aus. Sein Gesicht war ganz rot geworden, und bald fing er zu schnarchen an, daß es wie Donner dröhnte.

Nun planten wir zu entfliehen und suchten das große Tor zu öffnen, aber es war umsonst. Jeder Torflügel war etwa fünfundzwanzig Fuß hoch und so schwer, daß es uns unmöglich war, ihn zu bewegen. Die Burgmauern hatten eine Höhe von hundertfünfzig Fuß. Wir sahen ein, daß wir wie Fische im Teich gefangen waren. Wir hatten keinen Weg, zu entkommen, faßten einander bei den Händen und schrien.

Einer unter uns hatte nun einen Plan und sagte zu uns: ,Wir haben ein Messer; ich will es ihm, während der Riese betrunken daliegt, tief in die Augen stechen und ihm den Hals abschneiden.‘

,Wir sind alle dem Tod geweiht‘, antworteten die anderen, ,tue was uns vielleicht helfen kann!‘

So gingen wir auf den Vorbau und er stieß dem schlafenden Ungetüm das Messer in die Augen, daß sie ausliefen. Der Riese schrie laut auf und griff nach allen Seiten, um uns zu fassen. Wir entflohen schnell in den vorderen und dann in den hinteren Garten. Dort war eine Menge Schafe und Schweine. Wir warfen uns mitten unter die Tiere und hatten nun einen kleinen Schutz. Der Riese folgte uns und warf beide Arme aus, doch ergriff er immer nur seine Schafe oder Schweine. Nun öffnete er das große Tor und ließ die Tiere einzeln hinaus. Ein jeder von uns nahm ein Schaf oder ein Schwein auf seine Schultern und ging oder kroch hinaus zum Tore. Der Riese befühlte jedes seiner Tiere, aber er griff immer nur in die Wolle oder in die Borsten. So kamen wir alle ins Freie und bis an unser Boot. Eine Weile später — der Riese hatte unsere Flucht doch bemerkt — saß er auf einer Bank vor der Burg und schrie uns nach. Einige andere Riesen kamen auf das Geschrei herbei, sahen uns, nahmen dreißig Fuß lange Stangen, faßten das Boot und wollten es zurückziehen. Wir aber hieben denen, die das Boot hielten, mit unseren Beilen die Hände ab. So kamen wir mit Mühe wieder frei und gelangten hinaus in die See.

Vor dem Riesen waren wir gerettet, aber bald gerieten wir von neuem in einen Wirbelwind und unser Schiff wurde gegen Felsen und Klippen getrieben, wo es zerschellte. Alle meine Kameraden ertranken — ich allein blieb am Leben. Während ich nun auf einen Felsen hinaufkletterte, kam von rückwärts ein großer Hai und biß mir die beiden Füße ab. Ich selbst war nun zwar gerettet, aber ein Krüppel. Später traf ich auf der Insel mildtätige Menschen, die mich pflegten und mir weiter halfen.

Das ist die Geschichte, wie ich meine Beine verlor. So oft ich daran denke, werden meine Zähne kalt, und meine Knochen schlottern. Mir lächelte kein Glücksstern.«

Die Sage hatte bei allen Anwesenden einen tiefen Eindruck hinterlassen. Einige der Frauen hatten Mitleid mit dem Mann ohne Beine, die Knaben ihre Freude an dem Kampf mit dem Riesen und der listigen Flucht, der Hauswirt aber konnte aus seinem eigenen Leben von den Gefahren erzählen, die bei der Überfahrt nach Tschedschu und bei der Landung dort selbst zu überwinden sind.

Inzwischen hatte der Sagenerzähler seine Flöte zur Hand genommen und ließ eine frohe Weise ertönen und sang das