Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DIE FLUCHT DES KÖNIGS

 

Zur Zeit des großen koreanischen Königs Sondscho[67] nahm in Japan Taikosama[68] die Herrschaft an sich, und im ganzen Reiche zitterte man vor seiner Majestät. Er wollte auch China unterwerfen und bat darum für sein Heer von zweihunderttausend Mann um freien Durchzug durch Korea.

Im dritten Monat des Jahres Imdschin[69] setzte er mit dem Heere nach Korea über, und im Nu hatte er fünf Provinzen besetzt. Seine Stärke fürchtete man sehr.

Als nun König Sondscho die große Macht Japans sah, glaubte er, Korea könne gegen Japan nicht aufkommen und trug sich mit dem Gedanken, sein Leben zu retten. Er versammelte darum alle die obersten Beamten und beriet sich mit ihnen. Einige von den Ministern erklärten, sie hätten denselben Gedanken wie Sondscho und bestimmten ihn zur Flucht; aber sie wußten keinen Ort, wohin er sich zurückziehen könnte. Die einzige Zuflucht sei das Diamantgebirge[70] in der Provinz Kangwondo. Dort wären viele Bonzereien, aber die Orte seien in den Tälern ganz versteckt, die Wege ungangbar, und es sei sehr schwer, dorthin zu gelangen. Wenn man aber einmal in der Bonzerei Tschangansa[71] angekommen sei, dann sei man gerettet.

König Sondscho war also entschlossen zu fliehen und zog allein fort ins Diamantgebirge. Als er nun nach einigen Tagen in der Nähe der Berge ankam und den Weg ins Tal einschlug, waren die Pfade fast ungangbar und überall nur Bergübergänge. Auf allen Seiten erhoben sich dichte Bäume und wuchsen Sträucher; das Wasser plätscherte leise in den Gebirgsbächlein — es war gerade der Maienmonat. Die Goldamsel und andere Singvögel sangen klagend und teilten mit dem König das Herzeleid. Um so weniger aber konnte der König die Regierungssorgen vergessen.

Da auf dem Wege keine Herberge zu finden war, so mußte er, wenn die Nacht hereinbrach, ungekochte Speisen essen und im Taue schlafen; aber selbst wenn er eine Unterkunft fand, gab es nur Hirse und Gebirgskräuter. Er wollte auf dem Pferde reiten, aber der Pfad war so schmal, daß ein Reittier seinen Fuß nicht aufsetzen konnte, und so mußte er mehrere Tage lang auf schlechtesten Wegen zu Fuß gehen, bis er endlich eines Tages an einem hohen Bergsattel anlangte. Er stieg auf die Anhöhe und setzte sich auf der höchsten Spitze etwas zur Ruhe nieder; hier erblickte er von ferne die Bonzerei »Zur ewigen Ruhe«. Erleichtert atmete er auf und schaute sehnsuchtsvoll hinüber. Die Lage dieses Ortes war herrlich; rechts und links standen Föhren und Kiefern dicht beisammen, aus allen vier Richtungen ergossen sich wild herabstürzende Wasserfälle; ganz verschiedene Vogelstimmen, wie er sie früher nie gehört, klangen ihm voll ins Ohr, so daß König Sondscho eine Weile auch seine Sorgen vergaß und im Herzen voll höchster Freude dachte: ,O, wäre ich doch nie zur Regierung gekommen, sondern hätte in meiner Jugend gleich das Haar geschoren, wäre Mönch geworden und hätte hier gewohnt, so hätte ich diesen unglücklichen Krieg wohl nie erlebt!'

Gleich wie das Wasser hervorsprudelt, kam ihm im Herzen dieser Gedanke, aber nun war er König des Landes geworden, und konnte sich darum die Haare nicht mehr scheren lassen. Als er nun das Kloster »Zur ewigen Ruhe« aufsuchte und eintrat, betrachtete er die Taten und den Ort der Mönche und war wie im Himmel.

In diesem Kloster verblieb er mehrere Jahre, bis der Krieg zu Ende und der Frieden gekommen war; dann kehrte er zurück nach Soul und in seinen Königspalast, aber in Gedanken vergaß er nie seinen Aufenthalt im Diamantgebirge und benannte auch den letzten Bergsattel, wo er sich auf dem Weg zum Kloster zur Ruhe hingesetzt hatte und von weitem das Kloster »Tschangansa — zur ewigen Ruhe« gesehen hatte, »P’aldu-kogä«, weil er dort den Gedanken, sich das Haar zu schneiden und Mönch zu werden, gehabt hatte. Und von dieser Zeit an bis heute heißt dieser Bergübergang »Haarschneidepaß«.

All den verschiedenen Klöstern im Diamantgebirge aber stiftete er in reichem Maße Reisfelder, so daß die Anzahl der Mönche auf mehrere hundert stieg und dies die berühmtesten Klöster in Korea geworden sind; und darum wurde es auch jenes Stück Land, das von allen Gelehrten und Naturfreunden am meisten aufgesucht wurde.

Als der Sänger diese Sage beendet hatte, dankte der Hauswirt im Namen aller für den anregenden Abend, rief begeistert »Tschot’a, tschot’a[72]« und fügte erklärend hinzu, daß auch in China der Name des Diamantgebirges — Kumkangsan — in hohen Ehren stünde und die berühmtesten Maler des Ostens die steil aufsteigenden Felsen, die gradlinigen Basaltsäulen am Meeresufer, die prächtigen Wasserfälle und die idyllisch gelegenen Klosterstätten als Motive für ihre Gemälde genommen hätten. Buddha- und Bodhisattwa-Reliefs von sechzig und mehr Fuß Höhe seien in die Felswände eingehauen; kurz, das Diamantgebirge sei unsagbar schön, ein Juwel, besonders im Herbst, wenn das Laub der Odong und Eichen, des Ahorn und der vielen anderen Baumarten in tausenderlei Farben ein Bild von bezaubernder Pracht biete.

»Mit diesen Erzählungen«, fügte er abschließend zum Sänger gewandt hinzu, »habt Ihr uns wirklich eine große Freude bereitet!«

Der blinde Sänger nahm nochmals seine Flöte zur Hand, spielte und sang das Lied