Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DAS WUNDERKIND

 

Das Mädchen von der Wunderwurzel Sam[76] ist in ganz Korea bekannt. Wer von dieser Wurzel genießt, verlängert nicht allein sein Leben, er kann sogar die Unsterblichkeit gewinnen, vorausgesetzt daß er die richtige Wurzel gefunden hat. Diese aber zu entdecken, ist außerordentlich schwer: sie wächst nur in den wildesten Talschluchten und in schwer zugänglichen Felsritzen im tiefsten Dunkel uralter Bäume. Der Fund ist ein Geschenk des Berggeistes Sanson[77], dem die Bergwurzel (Sansam) heilig ist. Nur derjenige ist würdig, die echte Wurzel zu finden, der ein untadeliges Leben geführt und die Geister aufrichtig verehrt hat. Heißt es doch im Lied

Unsterblichkeit

Einen Trunk für langes Leben, Zaubertrank, Unsterblichkeit!

Wo ihn finden, wie ihn heben

in der kurzen Erdenzeit?

Herr Sillongsi[78] fand ihn nicht,

noch auch Kaiser Tschin Si-hoang[79]

und wie war er drauf erpicht,

Jahre, ach Jahrzehnte lang!

Für uns Pilger ist das Leben

nur ein Traum in dunkler Nacht.

Auch die Wurzel kann nicht geben volles Glück in ew’ger Pracht!

Nur ein starkes Tugendstreben

vor dem Tod in voller Freiheit macht verdienstvoll unser Leben,

führt uns zur Unsterblichkeit!

In dem Orte Yoriwon in der Provinz Tschella[80] lebte zur Zeit des Königs Wondschong[81] arm, aber überaus glücklich und zufrieden, ein Ehepaar mit seinem zwölfjährigen Jungen namens Mikori. Eines Tages wurde der Vater böswilligerweise von einem Nachbarn unschuldig verklagt und sollte verurteilt werden. Er hockte im dunklen, unfreundlichen Kerker und flehte den Berggeist um Hilfe an. Mutter und Sohn waren gleichfalls untröstlich, flehten ebenfalls zum »Gebieter der Berge« und brachten ihre Opfergaben dar. Einige Monate mochten verflossen sein, als der Königssohn in eine schwere Krankheit fiel. Die Ärzte wußten keinen Rat, bis ein alter, ergrauter Uisa, Arzt, dem König vorstellte, es gebe nur einen Weg zur Rettung und Gesundung: der Genuß der echten Bergwurzel Sansam. Nun ließ der König im ganzen Lande ausrufen, wer die Wunderwurzel Sam an den Hof bringe, würde königlich belohnt werden. An allen Türen der Behörden wurde der Erlaß des Königs in großer Schrift angeschlagen.

Auch der arme Gefangene hörte von diesem Erlaß und er flehte zum Berggeist für das Leben des Königssohnes.

Eines Tages stieg Mikori wiederum zum Tempelchen des Berggeistes hinauf. Vor dem Bilde des gütigen Greises mit dem Tiger zu seinen Füßen machte er einen Kniefall und schüttete hierauf die mitgebrachten Reiskörner auf den Steinhaufen zu Füßen der Geisterkiefer. Plötzlich hörte er, ohne jemand sehen zu können, aus dem Baum die Stimme, er solle nach der fernen Insel Tschedschu[82] aufbrechen und den hohen Hallasan besteigen, dort würde er den Weg finden, wie er den Vater retten könne. Der Junge eilte nach Hause und erzählte alles seiner Mutter. Noch zweifelten beide, ob das Gehörte nicht etwa Trugworte gewesen seien. Als aber auch die Mutter im Traume immer wieder die Worte vernahm »Laß ihn ziehn, laß ihn ziehn!« willigte sie ein, obwohl sie untröstlich war, nun auch den einzigen Sohn verlieren zu müssen; sie rüstete ihn mit dem Nötigsten aus, band ihm ein Podschägi[83] um und ließ ihn mit den besten Wünschen ziehen.

Todmüde kam Mikori auf Quelpart an, nachdem er zur Überfahrt einen Fischerkahn gefunden hatte. Sogleich begann er den Aufstieg auf den Hallasan. Kaum war er in die tiefen Wälder des Bergriesen vorgedrungen, als ihm ein zwerghaftes Männlein begegnete, das ihm freundlich zunickte und ihm zu folgen befahl. Beide arbeiteten sich durch Gestrüpp und über Steine hinweg und kamen schließlich zu einem Geisterbaum, in dessen Schatten ein herrlicher Ginseng mit seinen fünf Blättern wuchs. Das Männlein forderte den Knaben auf, die Wurzel auszugraben und nach Songdo, der Residenz des Königs, zu bringen. Es sei dies der Lohn für seine Elternliebe und die ehrenhafte Gesinnung seiner Eltern.

Kaum hatte der Junge sich bedankt und die goldgelbe Wurzel ausgegraben, als das Männlein verschwand und der Knabe in einer Wolke nach Songdo getragen wurde. Dort überreichte Mikori die Wunderwurzel dem König, der überglücklich war, den Knaben reichlich belohnte, seinem Vater Leben und Freiheit schenkte und die weitere Ausbildung des Jungen veranlaßte. Bald wurde nach dem Genuß der Heilwurzel auch der Königssohn wieder gesund.

Zwanzig Jahre später wurde Mikori vom Sohne des Königs[84], der inzwischen den Thron bestiegen hatte, zum Moksa[85] von Quelpart bestimmt. Nie hat die Insel einen Statthalter besessen, der besser für das Volk gesorgt, der aber auch die Berggeister des Hallasan eifriger verehrt hätte, als der vom Berggeiste ausgezeichnete Mikori.

Nicht nur Meister Yu, sondern alle Anwesenden hatten ihre Freude an der Geschichte, zumal der Sam-Duft auch in der Dorfschenke zu spüren war. Keiner hatte das Wurzelmännchen je gesehen, aber alle waren überzeugt, daß dem Ginseng eine lebenspendende und verjüngende Kraft innewohne.

Nun meldete sich Herr Tsch’ö zu einem Märchen, das dem buddhistischen Gedankenkreis angehörte.