Es lebte unter König Indschong[86] ein großer, verehrungswürdiger Gelehrter mit Namen So Hoadan. Er hatte alle Büchereien des Landes durchstudiert und wußte durch geheime, altbuddhistische Künste das Zukünftige voraus. Aber er erkannte auch die Nichtigkeit der Weltdinge, darum verließ er die Welt, begab sich an einen einsamen Ort und unterrichtete dort Knaben und Jünglinge in der buddhistischen Religion.
Eines Tages, mitten im Unterricht der Kinder, kam plötzlich ein ganz alter Bonze zur Türe herein, begrüßte den Lehrer mit tiefer Verneigung, murmelte etwas und ging wieder davon. Das alles war in wenigen Augenblicken geschehen. Als sich der Lehrer wieder allein sah, überkam ihn große Angst und Trauer. Die Knaben fragten nach dem Grunde dieser Angst, und Meister So bekannte: »Der alte Bonze, der vorhin kam, ist ein wilder Tiger vom nahen Gebirge. Morgen ist Hochzeit in dem und dem Hause. Der Tiger hat angemeldet, daß er die Braut nachts holen und fressen will. Die Brautleute haben von dem kommenden Unglück keine Ahnung, das macht mich so traurig und besorgt.«
Unter den Schülern war auch ein recht wagemutiger Junge, der sich über den ängstlich besorgten Lehrer ärgerte und fast unwillig den alten Meister fragte: »Ja, kann man denn einer Gefahr, die man kennt, nicht vorbeugen und dem Unglück ausweichen? Kann man den Brautleuten kein Mittel angeben, der kommenden Gefahr aus dem Wege zu gehen?« Der alte Lehrer besann sich und antwortete: »Wohl gibt es einen Ausweg, aber er ist sehr schwierig. Ein gewöhnlicher Mann kann ihn unmöglich ausführen.«
Der eifrige Schüler drang weiter in den Lehrer, ihm den Weg mitzuteilen, und Meister So sprach: »Es gibt ein wertvolles buddhistisches Buch, Kumkang-kyong[87] genannt. Wer dieses ganz fehlerlos liest, kann jede Gefahr abwenden; wird es aber fehlerhaft gelesen, so bricht das Unglück herein, wenn auch nicht über den Leser.« Nach diesen Worten holte er das buddhistische Buch und legte es auf das Tischchen.
Der Jüngling war voller Zorn und Erregung darüber, daß der Tiger über die Familie der Brautleute ein solches Unglück bringen sollte und schwor, den Bedrohten zu helfen: »Und wenn auch die Berge stürzen und das Meer sich spaltet, ich will helfen! Bin ich auch ein elender Tropf, ich muß das ganze Buch fehlerlos lesen, muß meine ganze Kraft aufwenden, um den armen Leuten zu helfen!«
Der Lehrer war damit einverstanden, und schnell schwang sich der beherzte Jüngling auf ein feuriges Roß und jagte ins weit entlegene Dorf der Brautleute, wo er abends ankam.
Es war das Haus eines sehr reichen Mannes. Die Leute trugen eben in schweren Kisten die Mitgift der Frau, Kleider und kostbare Gebrauchsgegenstände, herbei; viele Gäste und Fremde drängten heran und es herrschte ein großes Durcheinander und Gedränge. Nur mit Mühe konnte der Jüngling sein Pferd durch die Menge führen und gelangte endlich zum Tore des Hauses. Auf seinen dringenden Ruf nach dem Hausherrn, dem er Wichtiges mitzuteilen habe, kam der Mann unwillig ob der Störung heraus und erfuhr, daß der Braut ein großes Unglück bevorstehe.
»Junge, du bist verrückt! Wie soll meiner Schwiegertochter so etwas zustoßen?«
»Es ist so«, erwiderte dieser, »aber ich allein kenne auch das Mittel, dieses Unglück abzuwenden. Wenn Ihr mir vertraut, so werde ich es ausführen, nur müßt Ihr mir zusichern, daß meine Anordnungen strenge befolgt werden.«
Der Hausherr war heftig erschrocken. Es war ihm zumute, als ob vom heiteren Himmel ein Blitzstrahl niedergefahren und sein Haus in Brand gesteckt hätte. Er wollte zuerst nicht glauben, was der Jüngling vorbrachte, aber sein Drängen einerseits und die überzeugende Rede andererseits, sowie in seinem Herzen das sorgende Gefühl um die Zukunft machten ihm die Sache zur Gewißheit. Er bat den fremden Jüngling, alles aufzubieten, um die Brautleute zu retten.
Der Jüngling gab nun dem Herrn den Auftrag, die Schwiegertochter zusammen mit vier bis fünf Begleiterinnen der Braut in ein Zimmer zu sperren. Auf keinen Fall dürfe in dieser Nacht die Braut ihren Fuß außerhalb des Zimmers oder des Hauses setzen. Er selbst brannte eine große Kerze an, setzte sich auf den Maru[88] und begann laut das buddhistische Buch zu lesen.
Kaum hatten die Gäste von dem bevorstehenden Unglück gehört, als sie eiligst das Haus verließen.
Es mochte die dritte Nachtwache gekommen sein, da hörte man plötzlich im Freien ein dröhnendes Tigergeheul, so stark, wie wenn tausend Donner brüllten, und ein alter, großer Tiger sprang über die Mauer in den Hof, gerade auf das Fenster jenes Zimmers zu, worin das Mädchen saß, um dort einzudringen. Als er aber die buddhistischen Worte hörte, wurde seine Kraft immer schwächer und er zog sich knurrend in den Hof zurück. Die Leute im Hause wurden bleich vor Schrecken, keiner brachte auch nur einen Laut hervor, alle waren wie gelähmt vor Angst und Sorge. Der Schüler allein blieb ruhig, fürchtete sich nicht, sondern las mit lauter Stimme aus dem Buche.
Und wiederum sprang der Tiger auf und stürzte auf das Zimmer der Braut los; das Mädchen fuhr gleichfalls auf, schob die Leute beiseite und wollte zur Türe hinaus, ihrem Verhängnis entgegen. Nur mit aller Kraft vermochten die Dienerinnen die junge Braut zurückzuhalten. Der Tiger wurde wieder ruhig und ließ ab, aber bald stürzte er zum dritten Male auf und gegen das Fenster; sobald er aber die buddhistischen Laute vernahm, schwand seine Kraft. Jedesmal, so oft der Tiger herbeisprang, wurde die Braut fast wie eine Verrückte aufgeregt und wollte durchaus hinaus; der Tiger brüllte noch ärger als sonst, konnte aber nicht ins Zimmer eindringen.
So geschah es dreimal. Da hatte der beherzte Jüngling das Buch ganz ausgelesen. Die Nacht war fast vorüber und im Osten dämmerte der Morgen. Der Tiger verschwand, ohne eine Spur zurückzulassen. Die Schwiegertochter aber fiel ohnmächtig nieder. Man holte schnell frisches Wasser und brachte sie wieder langsam zum Bewußtsein. Die Bewohner hielten alles nur für Hexerei und einen bösen Traum. Der Herr aber und die Gäste kamen zu dem Jüngling, dankten bewegt für seine Hilfe, als ob er selbst ein Geist oder ein Arhat[89] gewesen wäre. Man bot ihm schließlich hundert Goldstücke an; der Jüngling berührte das Geld jedoch nicht, sondern freute sich, das Leben eines Menschen gerettet zu haben, bestieg das Pferd und kehrte zurück.
Kaum war er beim Lehrer wieder angelangt, so sprach dieser: »Du hast deine schwierige Aufgabe gut gelöst, ich muß dich loben; aber dreimal hast du beim Lesen einen Fehler gemacht.«
»Wie doch? Ich habe doch alles richtig gelesen!« brauste der Schüler auf.
Der Lehrer blieb ruhig und sagte: »Vorhin ist der alte Bonze wieder gekommen und sagte zu mir: ,Ich danke dir, daß du mir einen Menschen gerettet hast, aber dreimal wäre wegen falschen Lesens der Tiger fast ins Haus eingedrungen.‘ Denke nach, bei welchen Worten der Tiger gegen die Türe losgesprungen ist!«
Der Schüler brachte das Buch hervor und suchte die Stellen, wo der Tiger gestört hatte. Er sah seine Fehler ein, bereute seinen Stolz und vertiefte sich noch eingehender in das Studium der buddhistischen Lehre.
Alle aber waren von dem großen Nutzen dieser Studien vollauf überzeugt.
Obwohl die meisten der Zuhörer nicht Buddhisten waren, sondern teils der Lehre des Kungfutse, teils dem Taoismus anhingen, fand das Märchen doch starken Beifall, denn jeder war, ohne Rücksicht auf seine religiöse Gesinnung, überzeugt, daß man durch genaues Rezitieren der klassischen Bücher selbst die wilden Tiere bändigen könne.
Nun begann Herr Kwon seine Erzählung