Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DAS WURZELKNÄBLEIN

 

Eine Frau namens Kang hatte viele Jahre hindurch in treuer Verbundenheit mit ihrem Gatten im Gebiete des Tschirisan gelebt, aber ihre Sehnsucht nach einem Kinde ging nie in Erfüllung. Darüber waren beide Ehegatten sehr betrübt und nahmen in ihrem grenzenlosen Kummer ihre Zuflucht zum Sam-Gotte. Der Mann suchte tage- und wochenlang in den wildzerklüfteten Gebirgstälern des Tschirisan nach einer Sam-Wurzel[90], um diese heilkräftige Wurzel seiner Frau geben zu können, und diese pilgerte Tag für Tag zum kleinen Tempel vor der Stadtmauer und rief dort den Berggeist an.

Eines Tages brachte man den Mann schwer verletzt nach Hause. Er war beim Graben nach der wilden Sam-Wurzel abgestürzt, hielt aber die goldgelbe Wurzel noch krampfhaft an seine Brust gedrückt und übergab sie sterbend seiner Frau, die die Wurzel als kostbarstes Andenken mit beiden Händen in Empfang nahm und als Geschenk des Himmels in die Höhe hob.

Kaum waren die ersten Tage der Trauer vorüber, als Frau Kang den Saft der Heilwurzel, die langes Leben, ja Unsterblichkeit verbürgt, trank und als Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit dem Berggeist eine Strohfigur, in die sie sorgsam eine Rübe eingewickelt hatte, darbrachte. Schon nach ein paar Monaten gebar sie einen munteren Knaben, dessen Leben sie dem Genüsse der Wurzel und der Hilfe des Sam-Gottes zuschrieb. Der Knabe war so sehr das Ebenbild des verunglückten Vaters, daß die Mutter sich über den Tod ihres Mannes bald tröstete und ihre Freude und ihr Lebensglück in der Erziehung des Kindes fand.

Der Knabe aber wuchs heran, wurde blühend und stark. Seine schnelle Auffassungsgabe, sein Lerneifer und sein vorzügliches Gedächtnis wurden bald allgemein bewundert, ja die Leute kamen zu ihm wie zu einem Wunderkinde und er wußte immer, trotz seiner Jugend, Rat und Hilfe. Auch die Mutter hatte keine Sorgen, denn wenn auch das Haus klein und die Einnahmen aus dem Stückchen Ackerland bescheiden waren, so hatten Mutter und Sohn doch stets genug zum Leben.

So schön der Knabe war, so fiel doch allen die bleiche Farbe und seine Vorliebe für die Bergeinsamkeit auf; die Leute schrieben dies dem frühen Tod des Vaters und den dadurch bedingten Entbehrungen zu.

Als der Knabe zwölf Jahre alt war, starb auch die Mutter. Der tiefbetrübte Sohn veranstaltete seiner Mutter ein schönes Leichenbegängnis, dann ging er in den Wald und kehrte nie wieder.

Nun war nach einiger Zeit im Dorfe eine Seuche ausgebrochen. Alle angewandten Heilmittel nützten nichts und aller Rat der Ärzte konnte sie nicht eindämmen oder die von der Krankheit Befallenen vor dem Tode bewahren. Schließlich meinte ein alter erfahrener Gelehrter: jetzt wäre es gut, wenn der Sohn der verstorbenen Witwe Kang da wäre, der wüßte bestimmt Rat und Hilfe.

Ein armer, aber fleißiger Mann des Dorfes namens Mun erbot sich, in die Wälder des Tschirisan zu gehen und den Jungen zu suchen, denn, so sagte er sich, wie der Knabe früher immer die Waldeinsamkeit geliebt habe, so dürfte er auch jetzt irgendwo im Gebirge zu finden sein. Alle Dorfbewohner ermunterten Mun, zum Wohle aller aufzubrechen.

Mun-sonsäng war darauf gefaßt, längere Zeit von zu Hause fortbleiben zu müssen. Er füllte daher sein Podschägi[91] mit etwas Reis und getrocknetem Fisch, band seine Kürbisschale daran fest, und hängte sich die Tasche um die Schulter; sodann suchte er die Büchse mit Feuerstein und Schwamm hervor, füllte den Tabakbeutel, knüpfte beide Beutel am Horidüi[92] fest, steckte ein Handtuch an der Seite in den Gürtel, nahm die Pfeife und einen knorrigen Stock in die Hand und begab sich in den Wald.

Er wußte selbst nicht, wie es kam, aber es war ihm ganz seltsam zumute. Nach dem Kalender war der Tag, an dem er aufbrach, ein glückverheißender, aber wenn er auch, wie alle Koreaner, an das Eintreffen der Vorhersage glaubte und darnach sein Tun und Leben einrichtete — kam es nicht ebenso oft vor, daß der Kalender mit seinen Glück und Unglück anzeigenden Tagen nicht stimmte?

Stundenweit war Mun-sonsäng, einem einsamen Bergpfad folgend, in den Wald des Tschirisan vorgedrungen. Der Wald wurde immer dichter, der Pfad unwegsamer. Plötzlich lichtete sich der Wald und der Wanderer betrat eine mit Gebüsch und hohem Gras bewachsene Wiese. Einzelne Baumstämme lagen halb morsch am Boden; Felsen, von Moos und Flechten bedeckt, versperrten stellenweise den Weg. Mun-sonsäng arbeitete sich ziellos durch das Gestrüpp. Auf einmal erblickte er in einiger Entfernung ein Lichtlein, das Doggäbipul[93], kam es ihm in den Sinn. Sollte er dem Lichtlein nachgehen? War es ein Irrlicht? Er wußte es nicht. Fast willenlos folgte er über Stock und Stein der Fackel, die von unsichtbaren Händen durch die Luft getragen wurde.

Wie lange er so gewandert war, wußte er selbst nicht zu sagen. Plötzlich befand er sich vor einer verlassenen, von einem Odongbaum überschatteten Köhlerhütte. Das Lichtlein jedoch war verschwunden. Neugierig trat Mun in die Hütte, sie war leer. Er gedachte also hier zu rasten und sich seine Mahlzeit zu bereiten. Bald brannte ein Feuer. Gierig aß er von den mitgebrachten Speisen, denn das Wandern und Klettern hatte ihn hungrig und müde gemacht. Dann legte er sich nieder und verfiel sofort in einen tiefen Schlaf.

War es Wirklichkeit, war es ein Traum? Der gesuchte Wunderknabe trat zu ihm an das Lager und sprach: »Weil du nach mir verlangst und nicht für dich, sondern für das Wohl deiner Mitmenschen eine heilkräftige Arznei suchst, so wisse, hinter dieser Hütte findest du einen überhängenden Felsen, darunter im Dunkel eine Sam-Pflanze. Diese grabe aus, bereite die Wurzel zu und verteile den Saft an die Kranken unten im Dorfe!«

Mun-sonsäng erwachte, sah aber niemand. Nur ein eigenartiger Duft erfüllte den kleinen Raum. Frisch gestärkt erhob er sich und fand tatsächlich unter dem bezeichneten Felsen phosphorleuchtend eine fünfblättrige Sam-Pflanze. Beglückt grub er die Wurzel aus, eilte damit den Berg hinab und zurück in sein Heimatdorf. Wirklich bewirkte die Sam-Wurzel ein Nachlassen der Seuche. Voller Dankbarkeit gingen die Dorfbewohner zum Tempelchen des Berggeistes und brachten alljährlich zur Wiederkehr des Jahrestages ein Opfer dar.

Mun-sonsäng aber pilgerte Jahr für Jahr zur verlassenen Köhlerhütte, kehrte aber eines Tages nicht wieder. Die einen sagten, er habe wieder das Doggäbipul erblickt, sei diesem gefolgt, aber von den Kobolden in die Irre geführt worden; andere behaupteten, das Wurzelmännlein habe ihn zu sich genommen.

Wieder freute sich Meister Yu, vor allem deshalb, weil er den Süden der Halbinsel nicht nur kannte, sondern auch in den dichten Waldungen des Tschirisan gejagt und nach wildwachsenden Arzneikräutern und Heilpflanzen gesucht hatte. Er gab, anschließend an die Erzählung, eine Beschreibung der Örtlichkeit und fand bei allen ein aufmerksames Ohr.

Jetzt brachte der Wirt der Dorfschenke die gedeckten Tischlein mit der Reisschüssel und einigen Schalen mit verschiedenen Zutaten herein, und alle ließen es sich munden. Für sie war es ein Festtagessen, denn bei ihrer Armut war Hirsekost ihre gewöhnliche Nahrung.

Als Zeichen der Zufriedenheit schnalzten sie mit der Zunge und freuten sich des gemütlichen Zusammenseins.

Als der Wirt das Sungyu[94] zum Mundspülen gereicht hatte und die kleinen Tischlein wieder abgetragen waren, fragte Meister Yu: »Wer wird nun als nächster uns seine Erzählung zum besten geben?« Er blickte gespannt im Kreise umher und es meldete sich ein kleiner, kräftig gebauter Mann, Herr Sin, und begann: