Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

PLEASE NOTE: This is an HTML preview only and some elements such as links or page numbers may be incorrect.
Download the book in PDF, ePub, Kindle for a complete version.

DER DANKBARE HIRSCH

 

In einem tiefen Gebirgstale des Myongwolsan[99] in der Provinz Kangwon lebte in alter Zeit in einem kleinen ärmlichen Strohhause eine Mutter mit ihrem zwölfjährigen Sohne. Der Vater war schon lange hinübergegangen[100], die Witwe konnte sich mit ihrem Kind aber nur kümmerlich ernähren. Täglich ging die Frau hinaus zum Geisterbaum und brachte dort dem Samsin[101] ihre Opfer dar. Manchmal, wenn Vollmond die Nacht erhellte, pilgerte sie auch des Nachts den beschwerlichen Weg zur Geisterkiefer empor, legte ein paar Reiskörner vor das Bild des Samgottes oder band einige farbige Bänder an den Ast des Baumes.

Der Knabe war stets sehr folgsam und hilfsbereit; er verehrte seine Mutter aufs höchste. Trotz seiner Jugend war er auch überaus verständig und sann auf Wege, wie er seiner Mutter das Leben erträglicher machen könne. Als er nun die täglichen Sorgen seiner Mutter erkannt hatte und wußte, wie sie sich seinetwegen so sehr plagen mußte, faßte er einen merkwürdigen Entschluß und sagte zu sich: »Meine Mutter liebt mich so überaus und arbeitet Tag und Nacht für mich, ja sie würde lieber Hungers sterben, als daß sie mich hungern sehen könnte; darum will ich von zu Hause heimlich fort. Lieber will ich sterben, als daß sie hungert.«

So dachte der Knabe laut für sich, zog sein violettes Tschoguri[102] und sein rosa T’urumägi[103] an, band noch einige Maiskolben in ein Podschägi[104], schlich sodann aus dem Hause und wanderte bei hellem Mondschein tiefer hinein in das Gebirgstal des Myongwolsan.

Wie lange er so gegangen, wußte er selbst nicht zu sagen; plötzlich stand ein stattlicher Hirsch vor ihm, schaute ihn gütig mit seinen großen braunen Augen an, hob sodann einen Fuß in die Höhe und zeigte ihn dem Knaben. Dieser staunte sehr, denn ein so prächtiges und merkwürdig zutrauliches Tier hatte er noch nie gesehen. Er fürchtete sich durchaus nicht und glaubte zuerst, der Hirsch habe zum Gruß den Fuß erhoben. Als er jedoch im Hufe des Tieres einen spitzigen Dorn gewahrte, der tief in das Fleisch eingedrungen war und dem Tier sicherlich Schmerzen bereitete, hatte er sofort großes Mitleid mit ihm, zog behutsam den Dorn aus dem Fleische und warf ihn in weitem Bogen weg. Der Hirsch aber machte kehrt, schritt weiter den Berg hinan und blickte oft zurück, wie um sich zu vergewissern, ob der Knabe auch folge. Dieser hatte den Hirsch liebgewonnen und folgte behutsam, denn der Wald war dicht, auf dem Boden lagen Äste und Zweige, und Rankenwerk und Dorngestrüpp versperrten den Weg. Das Mondlicht durchdrang nur an seltenen Stellen das Dickicht.

Als beide eine Strecke weit gegangen waren, sprang der Hirsch plötzlich hinter ein Gebüsch und verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der Knabe aber stutzte. Was sollte er tun? Er wußte nicht, wo er sich befand. Ohne recht zu wissen, warum er es tat, ging er zum Platz, wo der Hirsch verschwunden war und sah dort zu seinem Erstaunen die phosphorleuchtende, fünfblättrige Krone eines wilden San-sam[105]. Freudig grub er die kostbare Wurzel aus, und nun stand matt strahlend, goldgelb ein Knäblein vor ihm und rief mit wohlklingender Stimme: »Nimm mich mit, nimm mich mit!«

Der Junge nahm das schöne Sam-Kindlein auf seinen Arm, eilte damit den Berg hinab und gelangte nach einigen Umwegen gegen Morgengrauen zurück ins Heim der Witwe.

Als die Mutter die Flucht ihres einziges Sohnes bemerkt hatte, war sie stumm vor Entsetzen, denn nun hatte sie niemand mehr, für den sie sorgen und der später auch ihre Stütze sein konnte. Als nun aber der Knabe, das Sam-Kindlein auf dem Arm, ins Zimmer trat, war die Mutter so erfreut, daß ihr der Atem stockte. Das Sam-Knäblein hatte sich wieder in die Wurzel verwandelt. Verwundert nahm der Sohn diese Heilwurzel, bereitete sie zu und gab sie der Mutter als Speise und Trank.

Sie wurde wieder kräftig und voll Lebensfreude. Glück, Reichtum und Gesundheit zogen nun in die einfache Strohhütte ein, denn alljährlich am gleichen Tage erschien ein stattlicher Hirsch vor der Hütte der Witwe und ließ sich streicheln und liebkosen. Futter rührte der Hirsch nicht an, wohl aber fanden Mutter und Sohn nach dem Fortgang des Tieres vor dem Hause einige Bohnen, und als sie genauer hinsahen und sie aufhoben, waren es Goldkörner und Edelsteine. Damit hatte alle Not ein Ende.

Der Nachbar hatte schon lange mit scheelen Augen die Veränderung in der Hütte der Witwe bemerkt und konnte sich nicht erklären, wie Mutter und Sohn plötzlich zu solchem behaglichen Auskommen gelangt wären. Tag und Nacht beobachtete er den Hauseingang der Witwe, konnte aber lange nichts Auffälliges sehen, bis eines Tages der Hirsch wieder vor jener Hütte stand, Mutter und Sohn heraustraten, ihn liebkosten und schließlich nach dessen Weggang die Bohnen auflasen.

Nun hatte der Hirsch zufällig auch vor seiner eigenen Türe einige Bohnen fallen lassen. Er hob sie auf, aber wie sehr er sie auch betrachtete, in seinen Händen hin- und herdrehte und daran roch — es waren und blieben nur Bohnen. Und auch die Nachbarn, die er herbeigerufen hatte, konnten keine andere Feststellung treffen.

Als nun eines Tages die Witwe mit ihrem Sohn wieder zur Geisterkiefer emporstiegen, folgte der neidische Nachbar von weitem und sah, daß dem Berggeist Reiskörner gestreut wurden. Er begab sich daher nach einiger Zeit gleichfalls zum Geisterbaum, in seinem Geiz streute er aber keine Reiskörner, sondern forderte vom Berggeist, daß er auch ihm das Geheimnis, wie er ohne viel zu arbeiten zu Reichtum gelangen könne, mitteile. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel, eisige Wolken und dichte Nebelschwaden hüllten alles ringsum ein, ein Tiger brach aus der Dunkelheit hervor, und der neidische Nachbar ward nicht mehr gesehen.

So waren Tugendhaftigkeit und Opfersinn des Knaben belohnt, Neid, Mißgunst und Geiz des Nachbarn aber bestraft worden.

Mutter und Sohn bewahrten zeitlebens dem Berggeist ihre Dankbarkeit. Der Knabe aber wuchs heran und wurde später auch als Mandarin seinen Mitmenschen ein hilfreicher Vater.

Als Herr Tschang seine Erzählung beendet hatte, klatschte Meister Yu auf seine Knie und rief ein freudiges tschot’a. Er wußte, was es heißt, in Armut zu leben, denn er selbst hatte eine harte Jugendzeit hinter sich und war nur durch eisernen Fleiß zu einiger Wohlhabenheit gelangt.

Nun nahm Herr So aus der Weinschale einen kräftigen Zug, dann ergriff er das Wort zu folgendem Märchen: