In Kyongwon lebte vor langer Zeit eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Söhnen. Die Eltern waren äußerst rechtschaffen und erwarben sich durch harte Arbeit, ohne mit dem Schicksal zu hadern, den täglichen Unterhalt. Nun geriet aber von den zwei Söhnen der ältere in schlechte Gesellschaft, bereitete nicht allein den Eltern viele Sorgen und Unehre, sondern wurde selbst durch Trinken und Nichtstun höchst unglücklich und verarmte. Miroki, der jüngere Bruder, sah dies mit innerer Besorgnis und beschloß, durch ein persönliches Opfer die guten Geister zu bewegen, daß sie Käyong, den älteren Bruder, zur Besinnung und Besserung führten.
Lange überlegte er, was er wohl für ein Opfer bringen könne, um die Geister günstig zu stimmen. Er dachte an Reis, Wein und Wasser, an Räucherstäbchen und wohlriechende Harze und Kräuter — aber alles schien ihm zu gering. »Damit sind die Geister nicht zufrieden, sie wollen mehr!«
Er dachte daran, alles zu verlassen, sich die Haare zu scheren und in ein buddhistisches Kloster als Bettelmönch einzutreten oder als Einsiedler zu leben. »Aber das ist ja kein Opfer! Einsamkeit und Zurückgezogenheit von den zehntausend Dingen[106] bewahren dich ja nur vor Sorgen.«
Weiter überlegte er, durch freiwilligen Hunger und Durst sich zu quälen; aber ob das den Geistern wohlgefällig wäre?
Er war bereit, sich ein Glied eines Fingers, ja sogar einen ganzen Finger abzuhacken oder sich andere Schmerzen zuzufügen. Aber das bedeutete nur einen augenblicklichen Schmerz; die Wunde verheilt und alles ist beim alten.
Schließlich kam ihm der Gedanke, sein Leben für den älteren Bruder hinzugeben, damit dieser wieder auf die rechte Bahn komme. Dies Opfer schien ihm vollgültig.
Doch nun erhob sich die weitere Frage: welcher Gottheit oder welchem Geiste sollte er das Opfer seines Lebens darbringen?
Er dachte an Sangdsche, den obersten Himmelsherrn, an Okwang, den König der Unterwelt, an Songdschu, den Gott des Hauses, an T’otschu, den Schollengott, als Herrn des Gebietes, an Tschowang, den Küchengott, an Kwan-u, den Kriegsgott, an die verschiedenen Pudscho[107] und Posal[108], aber keinen von allen hielt er für berufen, seinem Bruder zu helfen. Da erinnerte er sich an den allgütigen Sanson, den Berggeist, an dessen Geisterkiefer er auf dem Bergpaß schon so oft vorübergegangen und einen Stein zu den zehntausend übrigen geworfen hatte.
Dort also, an dieser Kiefer, wollte er sein Leben beschließen und es dem Berggeist als Opfer darbieten.
Der Gedanke machte ihn froh. Weit entfernt traurig zu sein, dachte er nur an das Wohl seines Bruders und an die Ehre und Freude seiner Eltern, wenn der älteste Sohn wieder rechtschaffen würde.
Mit solchen Gedanken ging Miroki hinauf zum Paß, um den Platz zu besehen und den Ast zu suchen, an dem er sich erhängen könne. Er gedachte dies am Fünfzehnten des Monats zu tun, denn an diesem Tage werden gewöhnlich die Opfer dargebracht. Noch waren drei Tage bis zu diesem Zeitpunkt.
Als er nun am Paß und bei der Geisterkiefer angekommen war und einen Stein auf den Haufen geworfen hatte, bemerkte er, daß ein wunderschöner Vogel in den Zweigen saß und sein Lied sang. Miroki hörte eine Weile zu und freute sich über den lieblichen Gesang. Da glaubte er in den Tönen des Liedes Worte seiner Sprache zu vernehmen, und als er aufmerksam horchte, hörte er deutlich die Worte: »umure ka, umure ka, geh zum Brunnen!« Er achtete aber nicht darauf, sondern lauschte weiter und hörte wieder: »Miroka, umure ka, Mirok, geh zum Brunnen!« Nun erinnerte er sich, daß in nächster Nähe der Kiefer ein alter, halb eingefallener Brunnen, der Ryongdschong[109], lag. Er ging dorthin und fand tatsächlich inmitten von Steingeröll und Gebüsch den verlassenen Brunnen. Als er hineinblickte, sah er einen Jüngling voller Kraft, anmutig anzusehen, so wie er selbst vor manchen Jahren ausgesehen hatte; Miroki wunderte sich, denn er war gewohnt, sein eigenes, gegenwärtiges Bild im Spiegel des Wassers zu sehen. Noch einmal blickte er, wie um sich zu vergewissern, daß er wach sei und nicht träume, in den Brunnen, und obwohl er traurig war, schien das Spiegelbild heiter und vergnügt.
In Gedanken versunken, wie dies möglich sein könne, ging Miroki nach Hause und fand wieder die geliebten alten Eltern in Sorge und Kummer über den ältesten, entarteten Sohn. Er tröstete sie nach bestem Können und versicherte sie, daß er durch doppelte Liebe die Unart des Bruders wettmachen wolle.
Am zweiten Tag pilgerte Miroki wieder hinauf zum Geisterbaume. Wie gewohnt, warf er seinen Stein als Opfer auf den Steinhaufen zu den übrigen und spuckte aus, denn Speichel galt wie der Odem des Menschen stets als Lebenselement. Als Miroki auf den Baum blickte, um, wie er hoffte, den Vogel wieder zu hören, sah er auf dem unteren Baumast sitzend einen jungen Tiger, der ihn mit feurigen Augen anblickte und sprach: »Menschenkind, sei ohne Furcht! Mich schickt mein Herr, er wird dein Opfer annehmen. Du aber geh zum Paßbrunnen, blicke hinein und du wirst die Zukunft erschauen! Doch darfst du nur drei Fragen stellen!« Nach diesen Worten verschwand der Tiger.
Neugierig ging der junge Mann wieder zum Brunnen, blickte hinein und sah wie am Vortage sein Bild, wie er vor Jahren ausgesehen hatte.
»Und was soll mir die Zukunft bringen?« fragte er hinab zum Wasserspiegel. Da bewegte sich die sonst stille Fläche, als ob er ein Steinchen hinabgeworfen hätte, es bildeten sich Ringe, die bis an den Rand des Brunnens weiterliefen; allmählich beruhigte sich der Wasserspiegel wieder, und nun erblickte Miroki eine kostbare Sänfte, die von einer Reihe von Männern getragen wurde. Vor und hinter der Sänfte ging eine Musikkapelle, und Miroki glaubte sogar die klingenden Weisen zu hören.
Noch einmal sprach er in den Brunnen hinein und fragte nach dem Schicksal von Vater und Mutter. Wieder zog das Wasser seine Kreise und er sah den Vater als ehrwürdigen Greis, den Gelehrtenhut auf dem Haupte und umgeben von einer Reihe von Enkelkindern. Das Bild verschwand und ein schönes Grab am Waldesrand, umgeben von einer Mauer, erschien so deutlich auf der Wasserfläche, daß er die Berge und Täler bis zum Meere unterscheiden konnte.
Auch dieses Bild verschwand. Von neuem stellte Miroki die Frage nach dem Schicksal des Bruders, aber wie sehr er auch schaute und wartete — das Wasser blieb stumm. Nun erinnerte er sich, daß er bereits drei Fragen gestellt und damit keine Möglichkeit hatte, andere zukünftige Dinge und Schicksale zu erfahren.
Im Gedenken an das Grab seiner Mutter ging Miroki traurig nach Hause. Jetzt fielen ihm die Worte des Tigers ein: »Mich schickt mein Herr, er wird dein Opfer annehmen!« Also würde er sich am kommenden Tage opfern.
,Aber‘, so überlegte er weiter, ,wie soll dann in Erfüllung gehen, daß ich in der Kyodscha[110] eines Kwalli[111] getragen werde?‘ Er wußte dafür keine Lösung und erwartete den folgenden Tag.
Auserlesen angezogen, ging Miroki am Fünfzehnten des Monats den Bergpaß hinauf. Er trug eine Schüssel Reis und eine Melonenflasche voll Reiswein mit sich, um sie dem gütigen Berggeist zu opfern und dann sein eigenes Leben für die Rettung des Bruders hinzugeben. Es war ein außergewöhnlich prächtiger Herbsttag. Die Sonne strahlte, ein wolkenloser Himmel wölbte sich in tiefem Blau über Berg und Tal, über Ebenen und Wäldern. Noch nie war dem Pilger die Landschaft so wunderbar vorgekommen. So weit der Blick reichte, stuften sich die Höhenzüge ab, bis das Meer sich mit dem Himmel zu einer Einheit verband.
Am Geisterbaume angekommen, stellte Miroki seine Schüssel Reis und die Weinflasche auf den Steinhaufen, machte seinen tiefen Kniefall und flehte: »Hoher Sansonnim, nimm mein Leben gnädig an!«
Er blieb noch eine Weile in kniender Stellung, da erhob sich ein Wirbelwind, erfaßte den Pilger und trug ihn mit Windesflügeln über die Höhen hinweg auf die Spitze des höchsten Berges in weiter Umgebung. Dort stand auf breiter Felsplatte ein Thron aus Kieferngebüsch. Zwei Tiger lagen friedlich zu beiden Seiten des Thrones. Unterhalb der Thronstufen erhob sich die hohe fünfblättrige Sam-Pflanze, Ginseng, und verbreitete einen seltsam starken und betäubenden Duft. Auf dem Throne selbst saß ein Greis, ähnlich wie ihn Miroki am Vortage im Wasserspiegel erschaut hatte, und blickte den Pilger überaus gütig an.
»Du hast dein Leben für den Bruder opfern wollen. Ich nehme deinen Entschluß für die Tat. Du sollst leben! Aber nicht wie gewöhnliche Menschen. Ich will dir zum Lohne den Unsterblichkeitstrunk geben. Alle Jahre einmal, bei der Wiederkehr des heutigen Tages, sollst du zum Paßbrunnen pilgern, dort eine Schale Wasser trinken und du wirst leben! Auch deinem Bruder will ich seine Untaten verzeihen. Er wird als Einsiedler mir dienen. Doch du wirst zur Mandarinwürde erhoben und glücklich sein. Wem immer du am heutigen Tag aus dem Brunnen zu trinken gibst, der wird leben, bis er durch irgendeine Untat sich das Leben verwirkt.«
So sprach der Berggeist. Miroki aber neigte sich dankbar zur Erde und schon ward er auf den Flügeln des Windes zurück zum Geisterbaum getragen. Doch er war merkwürdig müde. Darum legte er sich in den Schatten des Baumes und verfiel in einen tiefen Schlummer. Jetzt träumte ihm, er fliege durch die Lüfte über Länder und Meere — und was er sah, war Krieg und Verwüstung, Hunger und Überschwemmung, Krankheit und Tod. Und er flog über Städte und Dörfer und hörte Streit und Zwist, Ungerechtigkeit und Lüge. Überall war Mißgunst, Neid, Treulosigkeit und schamloses Benehmen. Da fing er zu weinen an und bat: »Herr, nimm mein Leben, nur verschone die Gerechten!«
Wieder erschien ihm die majestätische Gestalt des Greises auf seinem Throne. Diesmal blickte er finster und ernst: »Nur wegen der vielen Ungerechtigkeit der Menschen ist auch die Natur voller Unheil. Du hast das Übel erkannt und dein Leben als Opfer angeboten: du sollst leben! Willst du als Kind oder Jüngling wiedergeboren werden oder willst du, daß dein Name unsterblich sei, willst du in deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln fortleben? ... Wähle!«
Aber noch ehe er wählen konnte, erwachte Miroki und wußte nicht mehr zu unterscheiden, was Wahrheit und was Traum gewesen.
Über ihm breitete der Geisterbaum seine gespenstigen Äste aus, der Himmel lachte und die Sonne strahlte. Er rieb sich die Augen, ging zum Paßbrunnen, trank, wie ihm geraten worden war, und fühlte sich jung und gestärkt, denn er glaubte den Unsterblichkeitstrank zu sich genommen zu haben...
Als Miroki voller Lebenskraft zu Hause anlangte, bot sich ihm ein ungewohntes Bild: sein älterer Bruder kniete vor dem greisen Vater und bat wegen seines schlechten Lebenswandels um Vergebung. Er habe einen fürchterlichen Traum gehabt. Er sei oben bei der Geisterkiefer gewesen und habe dort seinen Bruder am Aste des verehrungswürdigen Baumes hängen sehen. Der Bruder habe selig gelächelt, er selbst aber sei zu Tode erschrocken, denn von allen Seiten seien feurige Schlangen auf ihn gestürzt und hätten ihn gemartert, gebissen und gewürgt. Schließlich habe er sich in seiner Not um Hilfe und Rettung an den Berggeist gewandt. Wirklich sei ihm dieser erschienen und habe ihm gesagt, daß sein Bruder sich seinetwegen geopfert habe und daß er nur dann Vergebung erlangen könne, wenn er drei Jahre lang als Einsiedler Buße tue. Dies habe er denn heilig versprochen, und darauf hätten die Schlangen von ihm abgelassen. Als er von diesem schweren Traume erwacht sei, hätte ihm wirklich der ganze Leib geschmerzt und er sei wie von vielen Schlägen blau gewesen. Wohl wisse er, daß Träume wie Seifenblasen im Innern hohl seien und zerplatzten, aber dieselben Seifenkugeln würden auch im Licht wie Regenbögen schimmern und glänzen und dem Menschen Freude bereiten. Ihm gelte dieser Traum als ein Geschenk des Himmels, und er wolle sein dem Berggeist gegebenes Wort einlösen und wirklich sich als Einsiedler für drei Jahre zurückziehen.
Der Vater hob den reuigen Sohn auf und umarmte ihn.
Als nun Miroki seinerseits das Erlebnis auf dem Berge und seinen Traum erzählte, war es allen klar, daß der gütige Sanson das Opfer des jüngeren Bruders angenommen und die Bekehrung des älteren bewerkstelligt habe, und die Dankbarkeit der ganzen Familie war grenzenlos.
Jahre waren vergangen. Mirokis Mutter war gestorben, und ein schöner Grabhügel auf dem nahen Berge wölbte sich über ihrem Sarge. Der Vater hatte sich zurückgezogen und lebte als Dichter und Philosoph. Der Name Kwon Tschunghoa wird heute noch in ganz Korea mit Hochachtung genannt.
Miroki aber wurde in seiner Vaterstadt Kwalli[112]. Alle Jahre am Jahrestag seines Opferganges pilgerte er hinauf zum Paßbrunnen, blickte in den dunklen Wasserspiegel und bekam Antwort auf drei Fragen. Und wenn er als Mandarin und Richter vor schwierige Fragen gestellt wurde, so holte er sich dort Rat — und seine Weisheit wurde von allen bewundert.
So lebte er glücklich und zufrieden und erreichte ein hohes Alter.
Herr So schwieg.
Alle Anwesenden hatten aufmerksam gelauscht. Meister Yu aber war über den Abend und die gehörten Märchen so sehr befriedigt, daß er nochmals beim Wirt der Dorfschenke eine Runde Yaktschu bestellte und sich vornahm, die Bitte um Erzählungen öfter zu wiederholen. Er hat sie dann auch in seinem Buche »Tschoson sosol« (Koreanische Kurzgeschichten) niedergeschrieben.