Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DAS URTEIL DES HASEN

 

In der Zeit des fünften und sechsten Mondmonats wird es furchtbar heiß. Während der Mittagshitze ging ein Porzellanwarenhändler, die Tschim[116] auf dem Rücken, mühsam auf einen hohen Bergpaß hinauf. Oben stellte er die Last beiseite, um etwas auszuruhen.

Da hörte er plötzlich in der Nähe einen Tiger jämmerlich brüllen. Er trat näher, um nach der Ursache zu sehen und erblickte einen großmächtigen Tiger, der in eine Falle geraten war, aus der er sich nicht mehr retten konnte. Der Tiger litt furchtbare Schmerzen. Als er nun den Menschen erblickte, schöpfte er ein wenig Hoffnung und rief: »Gib mir das Leben zurück, gib mir das Leben zurück!«

»Wie? du furchtbares Ungeheuer! Wenn ich dir das Leben wieder gebe, dann kommst du heraus, packst mich und frißt mich auf!« entgegnete der Mann.

»Nein, durchaus nicht!« rief der Tiger, »die Gnade, zu neuem Leben zu erstehen, ist ebenso groß wie die Geburtsstunde, vielleicht noch größer! Ich will dich wie meinen Vater ehren, nur rette mich! Tagtäglich mache ich tausend Li; wenn du dir irgend etwas wünschst, so kann ich es dir erfüllen, damit du in vollem Frieden lebst. Ich hoffe also, daß du mich befreist!«

»Deinen Worten glaube ich nicht«, sprach wieder der Mann, »du hast schon zu viele getäuscht. Wie sehr du auch beteuerst, deine Freilassung belohnen zu wollen, du vergißt diese Wohltat ja doch, sobald du aus der Falle herausgekommen bist.«

Nun klagte der Tiger bitter über das Unrecht, das andere verübt, das aber ihm angerechnet werde. Er schluchzte und stöhnte laut und der Mann ließ sich erweichen. Er schloß einen förmlichen Vertrag mit dem Tiger und öffnete dann die Falle, so daß der Gefangene frei heraustreten konnte.

Kaum hatte der Tiger wieder festen Boden unter den Füßen, so schnaufte er zuerst ein wenig, um das Glück der Freiheit zu genießen, sodann besann er sich und sprach: »Ung! Heute war mir das Glück günstig. Ich glaubte mich schon tot, nun aber lebe ich und kann wieder fressen!« Dann wandte er sich an seinen Befreier und sprach: »Wenn du jetzt stirbst, so sei darüber nicht unwillig! Wir haben vorhin einen Vertrag abgeschlossen, daß ich dich unter allen Umständen als meinen Vater anerkennen und verehren und dir das ganze Leben recht friedlich und angenehm gestalten werde. Ich kann dich aber unmöglich überall mit hinführen, darum tue ich dich in das Innere meines Bauches, dann bist du stets bei mir! Ich muß dich auffressen, wenn ich meinen Vertrag erfüllen soll!«

Der Mann war sprachlos. Das war doch zu stark. Er fing an mit dem Tiger zu streiten, schließlich kamen sie überein, einen Schiedsrichter anzurufen.

Als nun beide zusammen wanderten, begegneten sie einem Ochsen. Der Mann erzählte ihm den ganzen Streitfall von Anfang bis zu Ende. Aufmerksam hörte der Ochse zu, schließlich sagte er: »Tiger, friß den Menschen! Alle Menschen sollten aufgefressen werden! Welche Gunstbezeigungen erweisen sie denn uns, den Kühen und Stieren? Wir pflügen das Feld, tragen den Dünger, bringen die Ernte heim, tragen in der kältesten Zeit das schwere Holz, ziehen stundenlang die Wagen, auf denen die trägen Menschen sitzen, und verrichten sonst noch tausenderlei schwere Arbeiten zu ihrem Nutzen; sie aber schlagen uns nur, schimpfen uns ,dumme Tiere‘, und am Schluß schlachten sie uns, um unser Fleisch aufzuzehren und aus unserem Fell Leder für Sattelzeug und Schuhe herzustellen. Von Dank ist bei ihnen keine Rede. Wenn du, Mensch, den Tiger aus der Falle befreit hast, so ist das kaum der zehntausendste Teil von dem, was du uns Ochsen lohnen solltest. Also, Tiger, friß den Mann nur auf!«

Dies war das Urteil des Ochsen und der Mann schien verloren. Er war zum Tode verurteilt, erhob jedoch Einspruch und am Ende willigte der Tiger ein.

Wieder gingen die beiden eine Weile zusammen, als sie einem Hasen begegneten. Der Mann erzählte auch ihm den ganzen Streitfall und der Tiger versicherte, daß das Urteil entscheidend sei.

Gespannt hörte der Hase zu, schließlich sagte er: »Es genügt nicht, wenn ich nur Worte höre. Ich muß die Örtlichkeit sehen, eher kann ich kein Urteil fällen!«

Alle drei gingen also zurück zur Fallgrube.

Nun wandte sich der Hase an den Tiger und sprach: »In welcher Lage befandest du dich ganz am Anfang, als du den Menschen um Hilfe anriefst?«

Der Tiger antwortete ganz unbefangen: »Ich war in diese Falle gegangen.«

Der Hase sprach weiter: »Nun, dann begib dich noch einmal in diese Stellung!«

Nichtsahnend ging der Tiger in die Falle.

Nun wandte sich der Hase an den Menschen und fragte: »Aus welcher Stellung hast du denn den Tiger befreit?«

Der Mann antwortete wahrheitsgemäß: »Ich habe die Falltüre fest verschlossen vorgefunden, habe sie geöffnet und den Tiger freigelassen.«

»Wie war die Türe verschlossen?« fragte der Hase weiter, »mache es genau so, wie es war!«

Der Mann trat vor und verschloß fest die Falltüre.

Nun war der Tiger wieder gefangen wie vorher, der Hase aber wandte sich zu dem Manne und sagte: »Du unvernünftiger Mensch! Wie kann man nur einem solch bösen Raubtiere, wie diesem Tiger hier, die Türe öffnen!? Machen wir, daß wir fortkommen und überlassen wir den Tiger seinem Schicksal!«

Damit gingen die beiden. Der Tiger aber blieb gefangen und mußte nun seine Freveltaten und seinen Wortbruch bereuen und büßen ...

Gespannt hatten alle Schüler den Worten der Fabel gelauscht. Als Lehrer Pak nun geendet hatte, freuten sich alle, daß der Tiger wieder in die Falle gegangen war, schlugen auf ihre Knie und riefen: »tsch’am, tschot’a (wirklich ausgezeichnet!)«

Der Lehrer nahm die fast einen Meter lange Pfeife in die Hand und der kleine Kädongi ergriff Feuerstein und Schwamm, schlug Feuer und steckte dem Lehrer die Pfeife in Brand. Der Lehrer dankte mit »tschot'a (ist gut)!« Dann fragte er ihn: »Nun, Kädongi, welche Lehre ergibt sich wohl aus der Fabel, die ihr eben gehört habt?«

Der Junge besann sich einen Augenblick. »Sonsängnim«, sagte er dann zögernd, »die Tiere handeln oft vernünftiger als die Menschen!«

Der Lehrer hielt sich die Nase, denn er wußte wohl, daß das Urteil des Kleinen zutrifft, aber doch beschämend ist. Ergänzend fügte er hinzu, daß allzugroße Nachsicht sich oft ins Gegenteil wandelt. »Hätte der Mann nicht auf die Worte des Tigers gehört und ihn nicht freigelassen, so wäre er nie in die peinliche Lage versetzt worden.

Doch nun hört noch eine andere Fabel!«