Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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WIE DER STORCH
 DEN PROZESS ENTSCHEIDET

 

In der Provinz Kyungsang[117] lebte ein reicher Mann, dem ein verschwenderischer Verwandter fortwährend Geld erpreßte. Eines Tages wurde dies dem Reichen so zuwider, daß er den Verwandten gefangen nehmen und nach Soul bringen ließ, wo er ihn vor Gericht anklagte.

Jener Verwandte jedoch machte dem Richter ein großes Geschenk, erwirkte dadurch seine eigene Freilassung und die Verurteilung des Reichen. Dieser erbat sich nun die Erlaubnis, eine Geschichte erzählen zu dürfen.

»Gerne«, sprach der Richter, »gebe ich dir diese Erlaubnis, denn ich höre gerne Geschichten.«

Der Verurteilte trat vor und erzählte folgende Fabel: »Es stritten sich einst drei Vögel, wer von ihnen am schönsten sänge: es waren dies der Kuckuck, die Amsel und der Kranich. Da sie sich nicht einigen konnten, gingen sie zusammen zum Storch und legten ihm ihren Streitfall zur Entscheidung vor. Der Kranich aber wußte gar wohl, wie erbärmlich sein Schreien ist, ging darum zuvor am Ufer eines Reisfeldes auf und ab, fing Frösche und Insekten und brachte sie dem Storche zum Geschenke. Endlich kam der Tag, an dem über den Gesang der drei Vögel entschieden werden sollte. Der Storch als Richter ließ sie nacheinander singen: den Gesang der Amsel fand er zu schwach, jenen des Kuckucks zu eintönig; als aber der Kranich ganz häßlich zu schreien anfing, erhob sich der Storch, erklärte diesen Gesang für unübertrefflich, ja bezaubernd schön und sagte: ,Ja, das ist fürwahr die Stimme eines Feldherrn!«

Weit entfernt, über die Fabel und die Nutzanwendung auf sein eigenes Tun erbost zu sein, hatte der Richter seine Freude an dem offenen Auftreten des Verurteilten, erwirkte seine Freilassung und die Bestrafung des Schuldners.

So verglich der verurteilte Reiche den Richter mit jenem unvernünftigen Storche, der sich bestechen ließ.

Die Knaben hatten die Nutzanwendung verstanden, und während die einen »olt’a, olt’a (recht so)!« riefen, versuchten andere nach Bubenart den Kuckucksschrei, das Singen der Amsel und das Schreien des Kranichs nachzuahmen, bis der Lehrer Einhalt gebot und zum Abschluß der Schulstunde ein Lied singen ließ. Es war das beliebte Manghyangka[118]