Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DER DANKBARE RABE

 

Sodji, der spätere König von Silla[121], lernte in seiner Jugend fleißig Bogenschießen und hatte seine Freude am Reiten. Durch seine prächtige, kraftvolle Erscheinung überragte er alle anderen.

Eines Tages, gegen Ende des Frühlings, ritt er wieder mit tatenlustigem Herzen hinaus in die Berge, den Köcher mit Pfeilen vor der Brust und über der Schulter den großen Bogen tragend. Sein weißes Roß hatte einen silbernen Sattel; frisch trabte es voran. Plötzlich bemerkte der junge Königssohn, wie auf einem herbstlichen Baume ein Rabenpaar ängstlich hin und her flatterte und mit dumpfer Stimme sein Kräh, Kräh rief. Er fand das sonderbar und blickte genau hin. Da sah er, daß oben auf dem Baume ein Rabennest war, in dem Junge saßen, und zugleich erspähte er eine große Natter, die sich schnell auf den Baum hinaufwand, um die Rabenjungen zu holen.

Der Königssohn hielt sein Pferd an und sagte zu sich: »Selbst so kleine und unscheinbare Tiere wie jene Raben lieben ihre Jungen und sind sorgsam um ihr Leben bemüht. Ich will ihre Feindin, die große Schlange dort, mit meinen Pfeilen erlegen!«

Schnell nahm er einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf den Bogen und zielte. Schnurgerade flog der Pfeil hinüber und durchbohrte den Leib der großen Natter; diese fiel tot herab.

Die beiden Raben sahen dies, flogen »hul, hul« auf und kreisten einigemale über dem Kopf des jungen Königssohnes, gleichsam um ihren Dank abzustatten.

Wenige Jahre später wurde Sodji König von Silla. Eines Tages machte er in Begleitung seiner Minister und vieler Vornehmer einen Ritt zum »Pavillon der Himmelsquelle«. Alle waren froh und vergnügt — da plötzlich erschien ein Rabe, hielt im Schnabel eine silberne Dose und ließ sie vor dem Pferd des Königs fallen. Der König erschrak, ließ sich die Dose geben und öffnete sie. Im Innern war ein Brief. Auf dem Umschlag des Briefes standen die Worte: »Der kleine Rabe hat vom großen König eine Gunst erhalten, so groß und weit wie das Meer. Zum Danke bringt er diesen Brief.« Und nun kam folgende rätselhafte Inschrift: »Wenn du diesen Brief öffnest und liest, so werden zwei Menschen sterben, öffnest du ihn nicht, so wird nur ein Mensch sterben.«

Der König fand dies sehr sonderbar und sagte: »Ich bin nicht gewillt, einen Menschen zu töten, aber wenn einmal nach dem Gesetz des Himmels zwei Menschen zu sterben bestimmt sind und ich habe die Macht, einen davon zu retten, so will ich das tun; ich werde den Brief nicht öffnen!«

Im Gefolge des Königs befand sich auch ein sehr gelehrter alter Minister. Als er die Worte des Königs gehört hatte, verneigte er sich tief und sagte: »Majestät! Die Angelegenheit ist keine gewöhnliche. Nach meiner Meinung handelt es sich hier um Tod und Leben von zwei Menschen. Vielleicht können wir dadurch, daß wir den Brief öffnen und ihn lesen, auch das Leben zweier Menschen retten. Mir ahnt, daß dem heiligen Leib des Königs ein Unglück droht. Wir müssen ohne Zaudern den ganzen Inhalt des Briefes kennen!« Dann verneigte er sich wieder und ließ den König in Gedanken allein.

Dieser öffnete nun den Brief und fand folgende Worte: »Der König möge den Kasten der großen Zither[122], die er mit so viel Geschick spielt, mit seinem Bogen beschießen!«

Für diesen Tag beschloß der König den Vergnügungsritt und befahl heimzukehren. Im Palaste angekommen, ging er ohne Säumen mit Pfeil und Bogen in sein Schlafgemach und schoß auf den langen Kasten, in dem seine Zither aufbewahrt war. Da ertönte ein leises Wimmern und Blut rann aus dem Kasten. Schnell öffnete der König den Deckel und sah zu seinem großen Schrecken, wie ein Bonze, einen Dolch krampfhaft in der Hand haltend, in seinem Blute dalag.

Der König wurde sehr zornig und fragte die Diener des Palastes, wie dieser elende Schurke in sein Schlafgemach hereingekommen sei. Da erfuhr er, daß einer seiner Minister den scheinbar betenden Bonzen in den Palast geführt habe. Der König ließ den treulosen Minister rufen und hielt ihm sein Unrecht vor. Als dieser nun eingestand, daß der Bonze in feinem Auftrag den König ermorden sollte, ließ dieser ihn sofort zur Hinrichtung hinausführen.

So hatte sich der Inhalt des rätselhaften Briefes bewahrheitet. Hätte der König den Brief nicht geöffnet, so wäre er selbst ein Opfer des Todes geworden.

Weil der König einem Raben sein Leben verdankte, befahl er, daß jedes Jahr an diesem Tage den Raben ein leckeres Mahl bereitet werde. Und so geschieht es bis auf den heutigen Tag: wenn der vierte Tag des achten Mondmonats kommt, dann werfen die Einwohner von Südkorea den Raben Futter vor ihr Haus. Auf der Insel Tschedschu aber gelten die Raben als heilige Vögel...

»Tschot’a, tschot’a«, riefen die Knaben, als der Lehrer seine Erzählung beendet hatte. »Tsch’am, wirklich, elende Schurken verdienen die Todesstrafe!«

Pak sonsäng nickte, ließ sich die lange Pfeife anzünden und sagte: »Aber noch etwas ist aus dieser Geschichte zu lernen: einmal, daß man selbst dem nächsten Ratgeber nicht unbedingt vertrauen darf, wie das böse Beispiel des Ministers zeigt; zweitens, daß unter dem Deckmantel von Religiosität oft Schlechtigkeit verborgen ist, wie das Beispiel des Bonzen erweist; drittens, daß man selbst den Tieren ohne Grund nichts zuleide tun darf; und schließlich viertens, wenn schon die Tiere für Wohltaten, die man ihnen erweist, sich dankbar zeigen, um wieviel mehr soll der Mensch für erwiesene Guttaten dankbar sein!«

Die Kinder hatten aufmerksam zugehört und bettelten nun, der Lehrer möge im Erzählen fortfahren.

Wirklich besann sich dieser kurz, dann erzählte er die Fabel