Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

PLEASE NOTE: This is an HTML preview only and some elements such as links or page numbers may be incorrect.
Download the book in PDF, ePub, Kindle for a complete version.

DER GASTFREUNDLICHE TIGER

 

Ein schrecklicher Krieg war vorüber, aber im Lande war noch lange keine Ruhe eingetreten. Immer noch wütete die Verfolgung. Die Anhänger Kungfutses gaben den Buddhisten die Schuld an dem großen Unglück, diese hinwiederum schoben die Schuld auf die Anhänger Laotses. Nicht nur das! Auch das Räuberunwesen hatte im ganzen Lande stark überhand genommen; kurz, niemand war mehr seines Lebens sicher.

Eben waren die Häscher daran, ins Dorf Kongdschiwon einzudringen, als am entgegengesetzten Ende des Dorfes eine Mutter, das achtjährige Töchterchen an der Hand, eilig in die herbstliche Landschaft hinausschritt. Wie wehe war ihr ums Herz, zumal der Vater von den Henkern unschuldig hingemordet worden war! Mutter und Tochter hatten kaum die nötigste Kleidung, dazu keine Nahrung, keine Wohnung, keine Zukunft. Für ihr Leben bangte die Mutter nicht, wohl aber für das liebe Kind, das Liebste, was sie auf Erden besaß.

Auch dem Kinde war’s schwer ums kleine Herz. Wohl schien die Sonne noch warm vom Himmel, aber es war ihm, als hätte auch sie das Gesicht mit einem Schleier bedeckt. Die Blätter an den Bäumen hingen schlaff herab, selbst die Blümlein, die das Kind so liebte, hielten ihre Köpfchen gesenkt.

In der Ferne ertönte Kindergeschrei. Die Henkersknechte rissen eben die Eltern von den Kindern los. Auch dem armen Mädchen traten Tränen in die Augen, aber es hielt sich tapfer, um der Mutter sein Weh nicht merken zu lassen.

»Omonim (Mütterchen), wo ist denn der Vater? Warum kommt er nicht, warum geht er nicht mit uns?« fragte nach einer Weile das Kind.

Die Mutter erzitterte, der Vater war ja gemordet worden. Die noch nicht vernarbte Wunde in ihrem Herzen wurde wieder aufgerissen. Aber sie faßte sich und sagte nur: »Kind, der Vater ist nicht mehr auf Erden, er ist tot.«

Was es mit dem Tode für eine Bewandtnis hat, davon hatte das Kind noch keine Ahnung. Es wußte selbst nicht, wie ihm geschah, nur fühlte es im Herzen ein namenloses Weh. Es sollte den Vater auf Erden nie mehr sehen und hatte ihn doch so innig geliebt! Kräftiger umfaßte es die Hand der Mutter und weiter ging es den holprigen Fußpfad entlang durch wildes Gebüsch und Gestrüpp mit oft fingerlangen Dornen, dem nahen Felsengebirge zu. Es war dem Waisenkinde, als sähe es auch auf manchem Blümlein am Boden eine Träne perlen.

Wohin sie gehen wollten, darüber war sich auch die Frau anfangs nicht klar; nur den einen Gedanken hatte sie: fort von den Menschen, die oft grausamer sind als die wilden, vernunftlosen Tiere. Als sie aber höher stiegen, kam der Mutter der Gedanke an die Tschogamkul-Höhle, und dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los. Dort oben in dieser großen Höhle, ganz versteckt zwischen Felsgestein, wollte sie mit ihrem Töchterchen eine Zuflucht suchen. Der Weg war rauh, es ging steil bergauf, kaum daß die beiden es erschnaufen konnten.

»Kind«, sprach die Mutter, »ich weiß, es gibt hier wilde Bären und Katzen, Wölfe und Tiger. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Schlage nur die lieben Tiere nicht, dann tun sie gewiß auch dir nichts zuleide!«

Das Mädchen hatte noch keine wilden Tiere gesehen. Ab und zu waren zwar große schwarze, braune und gelbe Tierfelle ins Dorf gekommen, aber daß diese Tiere wild sein sollten, konnte Panghoa nicht recht glauben. Sie hatte auch wirklich keine Angst.

Es war schon fast dunkel, als die beiden vor der Höhle ankamen. Die Mutter blieb etwas außerhalb stehen und betete zuerst, dann trat sie in die niedrige Höhle ein. Es rührte sich gar nichts und sie glaubten allein zu sein. Am Rockgürtel hatte sie eine halbe Kürbisschale hängen, die schnallte sie ab und ging fort, um im nahen Bache Wasser zu schöpfen.

Das Kind blieb mittlerweile allein. Aber als es in der Höhle genauer umherblickte, sah es plötzlich einige funkelnde Sterne, die sich bewegten und hörte leises, aber doch grimmiges Fauchen und Miauen. Panghoa glaubte, ein paar Kätzchen seien dort, und sie hatte die Kätzchen so lieb. Darum ging sie näher und erblickte in einem fast runden Lager, das aus Stroh und Binsen, aus Laubwerk, Wolle und Tierhaaren gefertigt war, drei junge Tiger. Einer streckte gar seine Pfoten über den Rand heraus, wie um das Mädchen zu begrüßen. Panghoa ergriff die dargebotene Pfote, streichelte sie und der Tiger ließ es sich ruhig gefallen. Müde setzte sich das Mädchen auf die Lagerstätte, und einer der jungen Tiger kletterte gar hinauf und setzte sich auf den Schoß des Kindes.

Die Mutter kehrte zurück. Sogleich rief sie nach dem Mädchen, das ihr alsbald entgegenrief, sie spiele mit den Katzen, es seien ganz zutrauliche Tiere.

Die Frau erschrak zuerst heftig, aber sie dachte sich, lieber von wilden Tieren zerrissen werden, als der Hand tückischer Menschen anheimfallen und vielleicht seine Unschuld verlieren! Die Mutter hatte auch etwas Holz mitgebracht, sowie einen kleinen Kessel. Nunmehr schlug sie mit dem Feuerstein Funken, entzündete geschickt etwas Werg, blies, und bald flammte das Feuer auf und erleuchtete den weiten, großen Raum. Zehntausende von Perlen und Kristallen hingen an Decken und Wänden. Alles glitzerte und funkelte wie in einem Königspalast. An vielen Stellen war der Boden mit grünem Moos wie mit einem Teppich bedeckt. Das ermüdete Mädchen schaute verwundert in diesem Prachtsaal umher, es wußte selbst nicht, wie ihm geschah. Da plötzlich tauchte der Herr der Höhle am Eingang auf, blieb stehen und blickte streng auf das ungewohnte Bild.

»Wer ist hier eingedrungen, was wollt ihr hier?« rief der Tiger in die Höhle, und der Felsen wiederholte drohend diese Worte.

Die Frau sank in die Knie. Sie glaubte, ihr letztes Stündchen sei gekommen; gleichwohl antwortete sie mutig: »Herr, wir suchen bei dir in deinem Palaste Schutz gegen wütende Menschen, die uns verfolgen. Verzeihe, wenn wir ohne dein Wissen hier eingetreten sind!«

Der Tigerfürst sagte vorerst gar nichts, sondern trappte langsam und majestätischen Schrittes zur Lagerstätte seiner Kinder. Da sah er das rot und grün gekleidete Mädchen zusammen mit den Jungen spielen. Das Kind blickte den Tiger mit großen Augen fragend und flehend an. Und selbst dem raubgierigen Tiere wären Tränen gekommen, wenn es hätte weinen können. Der Tiger kämpfte innerlich einen schweren Kampf: sollte er die beiden zerreißen und als leckeren Abendtisch verzehren? Aber nein! Sie konnten ihm nicht entgehen, und für diesen Abend hatte er schon seine Beute heimgebracht. Er ließ sie also leben und sprach: »Kind, fürchte dich nicht! Ich tue dir nichts zuleide! Nur eines mußt du mir versprechen: du darfst die Höhle nicht verlassen, ohne mich gefragt zu haben. Ich will dich mit meinen Kindern aufziehen!«

Dann wandte er sich zur Frau und sagte: »Wenn du allein gewesen wärest, hätte ich dich zerrissen und aufgefressen, aber deines Kindes wegen schone ich dich! Du darfst hierbleiben, aber du mußt die Höhle bewachen, wenn ich fortgehe. Sorge gut für dein Kind und richte die Speisen zu. Fleisch will ich genügend bringen! Die Herrin ist vor einigen Tagen von Menschenhand erschossen worden, ich will Rache nehmen, aber nicht an dir will ich mich rächen, sondern an deinen und meinen Feinden!«

Nach diesen Worten ging der Tiger zurück zum Eingang der Höhle, holte das erlegte Wildschwein herein, das er den Berg heraufgeschleppt und vor dem Eingang hatte fallen lassen, zerlegte und verteilte die Beute. Auch die Frau bekam ein schönes Stück Schweinefleisch.

Mutter und Kind waren ganz ruhig geworden. Über dem Feuer brodelte das Wasser. Sie warf die gesammelten Kräuter hinein und bereitete zum Abendtisch einen schmackhaften Pandschang[126].

Der Tiger holte nun aus einer Ecke ein großes Bärenfell hervor, breitete es an einer vom Wind geschützten Stelle aus und sprach zur Frau: »Seht, das ist eure Lagerstätte! Ich will euch Freund und Vater sein!«

Dann trat der Tiger wieder seine nächtliche Wanderung an. Mutter und Kind aber aßen, und legten sich dann zur Ruhe nieder. Wochen und Monate, ja der halbe Winter waren fast vorübergegangen. Tag für Tag brachte der Tiger Speise, manchmal auch etwas Geräte und Geschirr aus menschlichen Wohnungen, und beschützte die Höhle. Die Mutter unterrichtete ihr Kind, es ward mit jedem Tag größer und schöner. Auch die jungen Tiger waren kräftig herangewachsen. Nie verließ Panghoa die gastfreundliche Höhle, ohne von einem jungen Tiger begleitet zu werden. Fast täglich suchte das Kind draußen eßbare Wurzeln und Kräuter und war trotz aller Not glücklich und zufrieden.

Den ganzen Winter hindurch hatten der Tiger und seine Jungen drunten im Tale unter den Menschenkindern furchtbare Bestürzung hervorgerufen. Die Leute wagten sich kaum mehr aus ihren Wohnungen. Allgemein wurde behauptet, das sei eine Strafe des Himmels für die ungerechte Verfolgung in den letzten Jahren. Man wollte nun gemeinsam gegen die gefürchteten Tiger zu Felde ziehen.

Die Tiger droben in der Höhle waren von alledem gut unterrichtet. Auf ihren nächtlichen Wanderungen hatten sie die Gespräche der Menschen belauscht. Eines Abends trat der Herr der Höhle vor Mutter und Kind und sagte: »Wir müssen in andere Berge ziehen, euch aber können wir nicht mitnehmen. Die Menschen tun euch nun nichts mehr zuleide. Kehrt friedlich zu ihnen zurück!«

Fast trauernd trabten die vier Tiger langsamen Schrittes zur Höhle hinaus. Panghoa und ihre Mutter aber blieben eine letzte Nacht noch in der Höhle. Am Morgen ging das Kind zuerst hinab ins Tal und holte sichere Kunde, dann kam es freudestrahlend zurück und nahm auch sein Mütterchen mit ins Vaterhaus. Die Aufregung bei den Leuten war groß, aber auch ebenso groß war die Freude, als sie die Totgeglaubten wieder sahen. Sie suchten nun an den beiden gut zu machen, was sie vorher an vielen anderen gefehlt hatten.

Oft noch besuchten Mutter und Kind die einsame Höhle, und heute noch, so oft bei den Leuten von der Tschogamkul die Rede ist, gedenkt man dankbar der geretteten Menschen und der gastfreundlichen Tiger.

Noch nie hatten die Knaben so aufmerksam der Erzählung des Lehrers gelauscht wie diesmal. Lebhaft konnten sie sich die Höhle vorstellen, da sich auch in der Nähe ihres Dorfes eine große Höhle befand. Auch das Wüten der Tiger war ihnen nicht unbekannt, denn in manchen Jahren waren diese Raubtiere bis an den Rand ihres Dorfes gelangt, und schon manche einsame Wanderer und Kinder waren den Tigern zum Opfer gefallen. Als darum Pak sonsäng seine Erzählung beendet hatte, schlugen sie voller Freude über die Errettung von Mutter und Kind auf ihre Knie und riefen ihr tschot'a, tschot'a!

Schon wollte der Lehrer für diesen Tag seine Fabelerzählungen beenden, als ihn die Kinder bestürmten, doch noch mehr zu erzählen. Er selbst hatte seine Freude am Iyägi, ließ sich daher bestimmen und erzählte folgende Fabel: