Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DER KRANKE TIGER

 

Als König der Tiere wird der Tiger von allen hoch verehrt, aber auch gefürchtet. Eines Tages nun fiel er in eine gefährliche Krankheit, konnte nicht mehr ausgehen und mußte, auf seinem Lager ausgestreckt, schreckliche Schmerzen erdulden. Wegen dieser Krankheit ihres Königs hatten sämtliche Tiere große Sorge, kamen fleißig herbei, ihm Nahrungsmittel zu bringen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Es besuchten ihn selbst solche, die sonst nie ihrem König unter die Augen kommen wollten.

Der Wolf nun gab einige Tage hindurch besonders fleißig Obacht, wer käme. Er hatte alle Tiere gesehen, nur der Fuchs war nicht erschienen, sich nach dem Wohlergehen und der Krankheit des Tigers zu erkundigen, wie es die gute Sitte erforderte. Der Wolf war überdies dem Fuchs nie von Herzen wohlgesinnt und benützte daher mit Freuden die Gelegenheit, den Fuchs anzuschwärzen, um ihn vielleicht ganz zu vernichten. Daher trat er in die Höhle, begrüßte den kranken Tiger und sprach: »Erhabene Majestät, allerdurchlauchtigster Fürst! Alle deine Diener sind bereits gekommen, sich nach deinem Krankheitszustand zu erkundigen, nur einer kam bis heute noch nicht. Das ist eine große Unterlassungssünde.«

Der Tiger knurrte: »Wer ist das? Er soll es büßen!«

Unterwürfig antwortete der Wolf: »Es ist der Fuchs. Dieser große Streuner ist nicht gekommen. Nach den bestehenden Gesetzen muß er wegen dieser schweren Schuld sterben!«

Nun wurde der König höchst zornig und rief: »Was, der Fuchskerl? Dieser Schurke!« Und er gab den Befehl, ihn aufzusuchen und zu töten.

Zur selben Zeit aber war der Fuchs um die Höhle geschlichen, hatte alles mit angehört und auch die Verleumdung des Wolfes vernommen; er erdachte sich daher eine List und wartete bloß darauf, bis der Wolf herauskam, dann ging er selbst allein in die Höhle, trat an das Krankenlager und grüßte überaus demütig. Der Tiger fuhr heftig auf, so daß der Fuchs kein einziges Wörtchen hervorzubringen sich getraute. Aber er verlor die innere Fassung nicht, warf sich auf die Erde und sagte: »Großer König, höre, warum dein Diener erst so spät hier eintrifft. Es sind zwar alle deine Untergebenen bereits dagewesen und haben sich nach deinem Befinden erkundigt, aber kein einziger hat eine Arznei mitgebracht, die dir helfen könnte, ja die meisten würden sich sogar über deinen Tod freuen. Das Fragen nach der Krankheit allein nützt doch nichts, dadurch ist noch niemand gesund geworden. Ich aber hatte deinetwegen wirklich große Sorge; ich ging in alle Länder, um nach einer geeigneten Medizin zu suchen und habe nun wirklich ein Heilmittel erfahren, das dich, großer König, retten kann. Daher kommt es, daß ich erst viel später als alle übrigen Tiere hierher komme und dich aufsuchen konnte. Erhabener König, zürne mir nicht, freue dich vielmehr, daß ich dir eine wirksame Arznei verschaffen kann!«

Der Tiger hörte diese Worte, freute sich aufrichtig, daß es eine Arznei gäbe, die ihn retten könnte, und sprach: »Wahrlich, du bist mir ein Diener, so notwendig wie Hände und Füße! Fast hätte ich einen Freund, der mir so nahe ist wie mein Atem, und der vor mir wie eine Säule steht, töten lassen! Das wäre ein großer Fehler gewesen! Sei nicht betrübt, sprich, was ist es für eine Medizin?«

Der Fuchs antwortete: »Ich habe einen berühmten Arzt in Indien befragt. Er gab mir den Bescheid: für des Tigers Majestät paßt bei seiner Krankheit nur die Leber des Wolfes!«

Nochmals ehrerbietig grüßend, entfernte sich nun der Fuchs, froh, sein Leben gerettet zu haben. Der Tiger aber erließ sogleich den Befehl, den Wolf zu töten, fraß die Leber als Arznei, genas aber gleichwohl nicht von seiner Krankheit.

Wieder riefen am Schluß der Erzählung die Kinder ihr begeistertes »tschot’a«.

Pak sonsäng nickte, nahm einen Schluck porimul[127] und sagte sodann: »Nun, Poksunga! [128] Kennst du auch das Sprichwort, das sich auf diese Fabel anwenden läßt und das auch für uns Geltung hat?«

Poksungi[129] dachte kurz nach, dann sagte er prompt: »namtschapi tschotschapi töta — Wer andere fangen will, wird selbst gefangen!«

»Oltschi, recht so!« bestätigte der Lehrer. Dann fuhr er fort: »Und nun erzähle ich euch noch eine Fabel, dann ist aber Schluß für heute!«