Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DIE GESCHICHTE
 VOM FLIEGENDEN REH

 

In einem Dorfe stritten zwei junge Leute miteinander. Der eine behauptete, ,das Reh springt‘, der andere ,das Reh fliegt‘. Sie konnten sich nicht einigen, zankten lange und jeder beharrte bei seiner Behauptung. Schließlich gingen beide zum Anwalt und verlangten eine gerichtliche Entscheidung.

»Nun«, fragte der Richter den einen, »wann hast du denn das Reh springen gesehen?«

Er antwortete: »Ich ging im Frühling meines Weges, da sah ich, wie das Reh hüpfte und sprang.«

Darauf wandte sich der Richter zum andern: »Und du, wann hast du das Reh fliegen gesehen?«

Der Gefragte antwortete: »Wir feierten, es war im siebten Monat, den sechzigsten Geburtstag des Schwiegervaters und waren fröhlich und ausgelassen. Als wir auf dem Heimwege am Waldrande vorbeigingen, sah ich, wie das Reh oben auf dem Gebüsch ging und dieses sich gar nicht bewegte. Ist das nicht ein Zeichen, daß das Reh fliegt?«

Der Richter war sofort im Bilde, sagte aber dennoch, er müsse sich erst an Ort und Stelle von der Wahrheit überzeugen. So gingen denn alle drei hinaus an den Waldrand. Tatsächlich sahen sie, wie ein Reh auf einer Böschung, die aber vom Gebüsch verdeckt war, schnell dahinschritt. Um es jedoch mit keinem der Streitenden zu verderben, fällte der Richter folgenden weisen Urteilsspruch: »Ihr habt beide recht: im Frühling springt das Reh und im Herbste fliegt es.«

Beide waren zufriedengestellt, zahlten die Gebühren und gingen als gute Kameraden nach Hause.

»Hier weiß ich wirklich nicht«, sagte Herr Kim, »ob ich mehr die Einfalt des einen oder die Klugheit des Richters bewundern soll. Ich hätte wohl entschieden, daß man in nüchternem Zustand das Reh springen und in betrunkenem Zustand das Reh fliegen sieht.

Doch die Geschichte erinnert mich an eine andere, drum höre!