Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DIE SONDERBARE GERICHTSSITZUNG

 

Mit einer kostbaren Last von zweiunddreißig kleinen Ballen feingewebter, buntgefärbter Seide wanderte ein alter koreanischer Seidenhändler einmal von P’yongyang aus gegen Süden, um auf dem Markte von Sariwon sein wertvolles Gespinst zu verkaufen. Unterwegs, ehe er noch ein Dorf oder ein Gasthaus erreicht hatte, wurde er von der Nacht überrascht. Zu seiner Freude fand er jedoch in der Nähe des Weges ein vornehmes Grab mit breiter Umfassungsmauer. Zwei mächtige Steinfiguren, Minister oder Gelehrte darstellend, befanden sich rechts und links des Grabhügels. An der Seite der Figuren standen zwei Reittiere. Hier nun wollte der Händler übernachten. Er band die Seidenballen zusammen und legte sein Haupt darauf. Bald war er eingeschlafen, denn er war müde durch die Hitze und den weiten Weg.

Des andern Tags, als er erwachte, war das Bündel mit den Seidenstoffen verschwunden und er selbst lag mit dem Kopfe auf einem harten Stein. Erschrocken fuhr er zusammen: eine jahrelange Arbeit und der Lebensunterhalt für ihn und seine Familie waren offenbar gestohlen worden. In seiner Not eilte er zum Mandarin und klagte ihm sein Leid. Dieser war gerecht gegen Arme und Unterdrückte, aber hart gegen Übeltäter. Deshalb war er auch vom Volke geliebt und geehrt, und mancher Gedenkstein stand schon in verschiedenen Marktflecken am Rande des Weges und pries die Gerechtigkeit und Tugend dieses Mannes.

Aufmerksam hörte der Mandarin als Richter die Klage an, dann fragte er: »Hast du niemand in der Nähe des Grabes gesehen?«

»Niemand, Herr«, erwiderte der Händler, »nur ein paar große Steinfiguren standen zu beiden Seiten des Grabhügels.«

»Also war wirklich kein lebendes Wesen zugegen?« fragte erneut der Richter.

»Ich habe wirklich keinen Menschen gesehen«, sagte der Kläger.

»Dann müssen die beiden Steinfiguren geholt werden; sie mögen Zeugen sein«, entschied der Mandarin.

Die Leute wunderten sich allgemein darüber, daß man die Gräber plündern und die beiden Standbilder von dort wegnehmen wollte, aber der Richter blieb fest: »Das Gericht und die Gerechtigkeit verlangen es so. Diebstahl ist ein großes Unrecht, das selbst die vernunftlose Natur verabscheut.«

Die ganze Bevölkerung war aufgebracht und neugierig dazu. Alle baten, bei der Gerichtssitzung zugegen sein zu dürfen. Anfänglich wies es der Richter ab, doch war er schließlich einverstanden, daß dreißig Mann aus der Ortschaft der Verhandlung beiwohnen durften.

Der Prozeß begann. Zuerst wurden einige Sätze aus den klassischen Schriften der Chinesen, dann einige Paragraphen der Landesgesetze verlesen. Alles war schweigsam und still. Nun brachte der Seidenhändler klagend seinen Fall vor.

Laut und feierlich fragte nunmehr der Richter eine der Steinfiguren, die vom Grabe weg in den Gerichtssaal geschleppt worden waren: »Hast du die Seide gestohlen?«

Doch das Standbild blieb still.

»Wenn er nicht spricht, soll er sechzig Stockhiebe bekommen«, urteilte der Richter. Die Gerichtsdiener nahmen ihre schweren Eichenholzprügel und schlugen fest auf die Steine los. Die Leute konnten sich des Lachens nicht erwehren, der Mandarin aber wurde zornig und sprach: »Wenn ich ein Urteil ausspreche, gibt es nichts zu lachen, das ist straffällig!« Die Zuhörer baten um Verzeihung, der Richter aber sprach: »Eine Strafe müßt ihr erhalten: jeder soll ein Bündel feiner Seide kaufen und sie hierherbringen!«

Die dreißig Teilnehmer wollten sich wehren, wurden aber gezwungen. Schließlich zogen sie diese Strafe einer noch härteren vor und verließen das Gerichtshaus. Bald kamen sie, jeder mit einem Bündelchen Seide unter dem Arm, zurück.

Kaum sah der Seidenhändler das Gewebe, so rief er: »Das ist ja der gestohlene Seidenstoff!«

Der Mandarin fragte nach, von wo man die Seide hergebracht habe, der Verkäufer wurde geholt, und bald hatte man auch den Dieb gefangen.

So waren tatsächlich die beiden Steinfiguren die Ankläger des Diebes geworden, und es hatte sich als wahr erwiesen, daß selbst die vernunftlose Natur den Diebstahl verabscheut.

»Ausgezeichnet!« rief Herr Pak und klopfte zustimmend auf seine Knie. »Dieser Mandarin hatte sein Herz wirklich am rechten Fleck! Es geschieht so viel Unrecht und nur selten wird der Übeltäter erreicht und bestraft. Wie aber soll die Menschheit bestehen, wenn nicht Gerechtigkeit geübt wird?«

Beide Jäger zündeten sich wieder ihre Pfeife an, die ihnen über der Erzählung ausgegangen war. Als nun Herr Kim seinen Kameraden fragte, ob er die Erzählung vom Bauern und dem Gelehrten kenne und dieser es verneinte, begann er